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Freie Forschung in Gefahr: X sperrt kritische Stimmen aus

HateAid unterstützt Datenanalysten bei Verfahren gegen Plattform

Der Datenanalyst Travis Brown untersucht Hassrede auf X (vormals: Twitter). In Recherchen für Medien wie CNN und BBC zeigt er auf, wie Extremist*innen auf der Plattform ungehindert Hass, Antisemitismus und Desinformation verbreiten. Statt konsequent gegen diese Entwicklungen vorzugehen, sperrt X nun schon zum zweiten Mal Browns Account mit dem Vorwurf unzulässiger Datenerhebung. Nachdem die erste Sperre bereits gerichtlich aufgehoben wurde, beauftragte das Unternehmen nun eine Großkanzlei. Mit langen Schriftsätzen und einer potenziell zermürbenden juristischen Auseinandersetzung soll der Analyst offenbar davon abgehalten werden, sich zu wehren. Er geht mit Unterstützung der gemeinnützigen Organisation HateAid gegen die Accountsperre vor.

Denn bei der Sperre geht es nicht um die von Brown geteilten Inhalte oder sein Verhalten gegenüber anderen Nutzenden, sondern um seine Tätigkeit als Programmierer und Datenanalyst. Er verfolgt dabei keine kommerziellen Interessen: Brown nutzt seine Recherchen, um die Öffentlichkeit über Missstände auf X aufzuklären. Die erste Sperre seines Accounts war ohne Vorwarnung mit Hinweis auf angebliche Verstöße gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen erfolgt. Dagegen hatte sich Brown erfolgreich mithilfe von HateAid gewehrt und eine einstweilige Verfügung gegen die Plattform erwirkt. Sein Account wurde wieder freigegeben. Die nun erfolgte erneute Sperre und das massive juristische Vorgehen gegen einen einzelnen Analysten zeigen: Dieses Verfahren reicht weit über den Einzelfall hinaus.

Dazu Datenanalyst Travis Brown:  
 
„Das Vorgehen von X ist ein Versuch, Forschende mundtot zu machen, die Extremismus und Desinformation auf der Plattform beobachten. Die Leitung von X macht die Plattform zunehmend gefährlicher, sowohl für Nutzende als auch für die ganze Welt. Und sie sind bereit, Klagen und andere Formen der Einschüchterung einzusetzen, um Kritik zu unterdrücken. Wir werden uns jedoch nicht zum Schweigen bringen lassen und weiterhin Daten sammeln und teilen, denn wir alle haben ein Recht darauf, die Auswirkungen dieser Plattformen auf unsere Welt zu verstehen.“

Zeitgleich mit der Ankündigung der erneuten Sperre von Browns Account reichte die von X beauftragte Großkanzlei eine 36-seitige Schutzschrift ein. Dabei handelt es sich um einen vorbeugenden Verteidigungsschriftsatz für den Fall, dass Brown sich erneut rechtlich gegen die Entscheidung der Plattform wehre. Mithilfe der Kanzlei RKA Legal und der Unterstützung von HateAid beantragte Brown daraufhin erneut eine einstweilige Verfügung beim Landgericht Berlin. Mit überraschendem Ergebnis: Das Gericht wies den Antrag mit der Begründung ab, dass ein deutsches Gericht nicht zuständig sei. Dabei hatte dieselbe Kammer zuvor eine einstweilige Verfügung gegen die erste Sperrung von Browns Account erlassen. Deshalb legte er nun Beschwerde ein. HateAid übernimmt die Kosten des Verfahrens und der anwaltlichen Vertretung im Rahmen der Prozesskostenfinanzierung.

Dazu Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid:

„Es ist brandgefährlich, wenn gerade jetzt unabhängige Forschung und Berichterstattung auf sozialen Netzwerken nicht mehr stattfinden kann. Nächstes Jahr finden die Wahl zum Europäischen Parlament und die Präsidentschaftswahl in den USA statt. Rechtsextreme werden massiv in den sozialen Netzwerken mobilisieren und Desinformation verbreiten. Wir unterstützen dieses Verfahren mit Travis Brown stellvertretend für alle Forschenden, die öffentlich machen, wie es hinter den Kulissen auf den Plattformen zugeht. Denn nur wenn wir wissen, was dort passiert und wer wie agiert, können wir unsere Demokratien überhaupt davor schützen.”

Brown ist kein Einzelfall. Social-Media-Plattformen gehen schon seit einiger Zeit verstärkt gegen Forschende vor. So klagt X etwa in den USA gegen die Nichtregierungsorganisation Center for Countering Digital Hate wegen der Veröffentlichung mehrerer Berichte, die eine Zunahme von Hassrede auf der Plattform aufzeigen. Auch Meta ging vor einigen Jahren gegen Datenanalysen vor: Accounts von Forschenden der New York University wurden gesperrt, die Organisation AlgorithmWatch sah sich angesichts einer drohenden Klage sogar gezwungen, ein Projekt zu Metas Plattform Instagram einzustellen. Daten zur Durchführung solcher Analysen erhalten Forschende derzeit kaum noch in benötigtem Umfang. Künftig schafft der europäische Digital Services Act (DSA) hier erstmals eine rechtliche Grundlage: Das neue Gesetz sieht, wenn auch sehr restriktiv, den Zugang zu den Daten von sehr großen Online-Plattformen zu Forschungszwecken vor. Damit dieser auch die erhoffte Transparenz schafft, wird es darauf ankommen, sich nicht auf eine freiwillige Mitwirkung der Plattformen zu verlassen, sondern für eine konsequente Aufsicht zu sorgen.

Vor diesem Hintergrund fordert HateAid daher in einer Petition von der Europäischen Kommission:

Aufsichtsfunktion wahrnehmen: Die Kommission muss sicherstellen, dass die Plattformen nicht länger willkürlich unliebsame Accounts und Inhalte blockieren. 

Klare Regeln für den Zugang zu Daten schaffen: Forschende und zivilgesellschaftliche Organisationen brauchen Klarheit darüber, wie sie Zugriff auf Daten in Echtzeit erhalten.

Schnelle Umsetzung: Die Kommission muss sicherstellen, dass die Mitgliedsstaaten die Koordinierungsstelle für Digitale Dienste schnellstmöglich einsetzen. Nur so können Forschende effektiv ihre Rechte einfordern.

Zu den Erstunterzeichner*innen der Petition zählen unter anderem das Center for Countering Digital Hate, Rechtsanwalt Chan-jo Jun, die Geschäftsführerinnen der Alfred Landecker Foundation Silke Mülherr und Lena Altman, die Publizistin Marina Weisband und der Wissenschaftler Prof. Dr. Volker Quaschning.

Der Prozess und die Petition sind Teil des Landecker Digital Justice Movement, einer Initiative der HateAid gGmbH, die exklusiv von der Alfred Landecker Foundation unterstützt wird.

Silke Mülherr, Co-CEO der Alfred Landecker Foundation, äußert sich wie folgt:

„Social-Media-Plattformen sind Teil des öffentlichen Raums, in dem politische Meinungsbildung und Agenda-Setting stattfinden. Darum erfüllen die Plattformen eine demokratische Funktion – und es kann und darf uns nicht egal sein, wenn Extremist*innen und Antisemit*innen dort ungehindert mobilisieren.“

HateAid gGmbH

Die gemeinnützige Organisation HateAid wurde 2018 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Berlin. Sie setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein und engagiert sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen. HateAid unterstützt Betroffene von digitaler Gewalt konkret durch Beratung und Prozesskostenfinanzierung. Geschäftsführerinnen sind Anna-Lena von Hodenberg und Josephine Ballon. 

HateAid ist Trägerin der Theodor-Heuss-Medaille 2023.  

Im Rahmen des Landecker Digital Justice Movements finanziert HateAid Grundsatzprozesse gegen Online-Plattformen, um grundlegende Nutzer*innenrechte gerichtlich klären zu lassen.

Pressekontakt: presse@hateaid.org, Tel. +49 (0)30 25208837

Pressematerial


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