
Bundesverfassungsgericht: Künast verbucht doch noch Erfolg im Facebook-Verfahren
Gerichte müssen Hausaufgaben bei Beleidigungen im Internet machen
Noch vor drei Jahren waren Land- und Kammergericht in Berlin der Meinung, dass die Grünen-Politikerin Renate Künast zum Teil schwere sexistische Beleidigungen auszuhalten habe. Heute hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dem widersprochen und entschieden, dass die Gerichte die Beleidigungen nicht richtig geprüft hätten. Die Entscheidung des Gerichts entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen. Insbesondere wurden die Besonderheiten des Internets – wie die Reichweite von Posts oder die Tatsache, dass sie über eine lange Zeit online bleiben können – nicht berücksichtigt. Nun müssen sich die Richter*innen am Kammergericht in Berlin erneut mit dem Fall befassen.
Gerichtsverfahren in Berlin sorgen für Aufschrei
Für viele skandalös, was sich da 2019 am Landgericht in Berlin abspielte: Übelste, sexistische Beleidigungen wie Drecksfotze, Schlampe oder Drecks Schwein seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. So urteilten die Richter*innen in einem von Renate Künast angestrebten Verfahren. Bitte wie? Die Politikerin hatte sich damals mit Hilfe von HateAid gegen beleidigende Kommentare gewehrt, die unter einem Falschzitat-Post von ihr landeten. Sie wollte vor Gericht erreichen, dass Facebook ihr die Daten der Nutzer*innen herausgibt, damit sie rechtlich gegen die Hater*innen vorgehen konnte. Die Richter*innen in Berlin urteilten damals jedoch, dass sie solch „überspitzte Kritik” in Form von Beleidigungen und Vergewaltigungswünschen auszuhalten habe. Nicht nur wir waren nach dieser Entscheidung fassungslos.
Nach einem Aufschrei in der halben Republik war uns und Frau Künast klar, dass dies nicht so stehen bleiben konnte. Wir beauftragten die Media Kanzlei Frankfurt, Beschwerde gegen die Entscheidung der Richter*innen einzulegen. Im Januar 2020 tagte das Gericht erneut – und gestattete in sechs von 22 Fällen die Herausgabe der Daten von Nutzer*innen, die Künast auf Facebook beleidigt hatten. Ein Teilerfolg mit bitterem Beigeschmack. Denn was bedeutete dies für die anderen Kommentare? Ein Freifahrtschein für Beleidigungen, direkt vom Landgericht Berlin ausgestellt? So fühlte es sich zumindest für viele Betroffene an.

Beschwerden über Beschwerden bis hin zur Verfassungsklage
Im Zuge einer weiteren Beschwerde, diesmal am Berliner Kammergericht, wurden sechs weitere Kommentare als rechtswidrige Beleidigungen eingestuft. Die zehn übrigen Kommentare blieben so stehen – und für uns war klar: Auch in diesen Fällen darf der Hass gegen die Politikerin nicht folgenlos stehen bleiben. Ganz gleich, ob sie in einem öffentlichen Amt tätig ist oder nicht. Denn auch hier argumentierten die Richter*innen, dass sich eine Politikerin eben öffentlich mehr gefallen lassen müsste.
Das sehen wir schon lange anders: Denn es handelt sich bei vielen Beleidigungen oder Verleumdungen auf sozialen Medien nicht um Einzelfälle. Gerade Personen des öffentlichen Lebens werden gezielt angegriffen, diskreditiert und zermürbt. Das geschieht vor aller Augen und oft kommen die Täter*innen aus dem rechten oder rechtsextremistischen Milieu. Das Ziel: engagierte Menschen wie Politiker*innen, Medienmacher*innen oder Ehrenamtliche sollen sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs zurückziehen, sie sollen mundtot gemacht werden. Dass das funktioniert, zeigt auch eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2021, in der 19 Prozent der Bürgermeister*innen in Deutschland angaben, schon einmal darüber nachgedacht zu haben, sich aus dem Amt zurückzuziehen. Als Gründe nannten sie unter anderem die Angst um sich selbst und ihre Familien.
Genau aus diesem Grund entschied sich Renate Künast mit der Unterstützung von HateAid hier weiterzumachen. Auch der Angriff auf sie war von einem Rechtsextremisten initiiert worden: Sven Liebich von Halle Leaks hatte das Falschzitat erstellt, unter dem sich die Hasskommentare sammelten. Stattdessen setzte sie sich weiter mutig und selbstbewusst für ihre Rechte und vor allem auch für die Rechte der vielen weiteren Betroffenen ein.
Gemeinsam mit HateAid hofften wir, dass eine grundsätzliche Entscheidung des höchsten Gerichts endlich für Klarheit für all diejenigen sorgen würde, die jeden Tag Hass und Häme in ihrem Beruf ertragen müssen. Und nachdem eine Rüge am Kammergericht abgewiesen wurde, ging es weiter in Richtung BVerfG – mit einer Verfassungsbeschwerde wehrte sich Künast dort gegen die Berliner Entscheidung. Die Begründung: Renate Künasts Grundrechte sind hier verletzt worden.
Wir unterstützen Renate Künast bis nach ganz oben
Im April 2020 reichte sie offiziell Verfassungsbeschwerde ein. Denn dass sich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2021 als “Hüterin des Grundgesetzes” endlich mit der Meinungsfreiheit auf Social-Media-Plattformen beschäftigt, war auch längst überfällig. Bisher hatte es sich noch nie mit der Fragestellung auseinandergesetzt, was Politiker*innen in den sozialen Netzwerken an Hass hinnehmen müssen. Das ist aber wichtig, denn die sozialen Netzwerke sind ein neuer öffentlicher Raum. Wenn auf der Straße beleidigt wird, dann bleibt das oft nur für die anwesenden Personen zu hören.
Das ist auf Social Media anders: Hier verbreiten sich Inhalte rasend schnell und werden potentiell für Millionen von Menschen sichtbar. Deswegen sind sie auch so ein effektives Mittel für Schmutzkampagnen und haben für Betroffene oft schwere emotionale Folgen. Bisher hatten sich die obersten Richter*innen aber noch nie näher mit einem Fall beschäftigt, der sich auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten von Politiker*innen in sozialen Medien bezog.
Die sensationelle Entscheidung am BVerfG
Von 2019 bis heute war ein langer Weg. Es kostete Zeit und viel Geld und Frau Künast und wir brauchten einen langen Atem. Glücklicherweise mit einem erfolgreichen Ausgang für Frau Künast und Betroffene von digitaler Gewalt in ganz Deutschland. Denn die Verfassungsrichter*innen hoben heute den Beschluss der Berliner Gerichte auf. Die beleidigenden Äußerungen gegen die Grünen-Politikerin seien eben doch nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, weil sie die Politikerin in ihren Persönlichkeitsrechten verletzen.

„Das Urteil hat eine wichtige Signalwirkung an alle deutschen Gerichte: Sie dürfen es sich bei der Beurteilung von Beleidigungen in sozialen Netzwerken nicht zu einfach zu machen. Für die Frage, ob eine Äußerung beleidigend oder noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, sind die Bedingungen der sozialen Netzwerke nicht nebensächlich, sondern entscheidend. Für die Betroffenen von digitaler Gewalt, die erlebt haben, was die Reichweite, Geschwindigkeit und Dauerhaftigkeit von schriftlichen Äußerungen über sie im Netz bedeuten kann, ist das eine historische Entscheidung. Immer mehr Menschen ziehen sich aus Angst vor digitaler Gewalt aus dem Netz zurück und äußern ihre Meinung nicht mehr offen. Das Urteil zeigt, dass Gerichte derartige Fälle künftig noch gründlicher bewerten und die Betroffenen endlich ernst nehmen müssen.”
Josephine Ballon, Head of Legal bei HateAid
Dass das Berliner Kammergericht mit einer sogenannten Abwägungsentscheidung argumentierte, die zwischen den Rechten einer Privat- und öffentlichen Person abzuwägen hat, genüge nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, so die Karlsruher Richter*innen. Nur weil sich die Kommentare gegen eine Politikerin richten, könnten sie nicht einfach als sachlicher Beitrag in der politischen Debatte gewertet werden.
“Nach jahrelanger Auseinandersetzung mit Hatespeech freut mich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sehr. Hier wurde nicht nur das öffentliche Interesse bekräftigt, dass die Persönlichkeitsrechte derer die sich für das Land engagieren, geschützt werden. Die Fachgerichte sind auch zur sehr konkreten Abwägung im Einzelfall verpflichtet, Zurückhaltung ist auch bei Texten in den Social Media zu erwarten und die Verbreitung einer Äußerung und ihre Wiederholung zu berücksichtigen. Das ist ein Stück Rechtsgeschichte im digitalen Zeitalter.”
Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, MdB

Auch Politiker*innen müssen geschützt werden
Die Richter*innen betonten heute, dass jede*r, auch Politiker*innen, in sozialen Netzwerken geschützt werden müsse. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich weiterhin gesellschaftlich engagieren und nicht vor einem Millionenpublikum wieder und wieder beleidigt werden. Zudem legten sie besonderes Augenmerk auf schriftliche Äußerungen, die etwa auf Social-Media-Plattformen gepostet werden. Diese müssten den Richter*innen zufolge mit mehr Sorgfalt geprüft werden als zum Beispiel mündliche Äußerungen im Affekt. Und letztlich ließen sie es sich auch nicht nehmen, die beeinträchtigende Wirkung zu erwähnen, die Bilder haben können, welche immer wieder gepostet werden und eine Person anprangern.
“Die Entscheidung ist ein Meilenstein. Es gehört in der Rechtsprechung leider zum Alltag, dass Herabsetzungen zu Lasten von Politikern als zulässige Meinungsäußerungen qualifiziert werden. Das Bundesverfassungsgericht ist dem heute entschieden entgegengetreten, indem es hervorhebt, dass diejenigen, die bereit sind an Staat und Gesellschaft mitzuwirken, besonders zu schützen sind.”
Severin Riemenschneider, Rechtsanwalt von Künast im Fall