Historische Chance verpasst: Entwurf zum Gesetz gegen digitale Gewalt kommt zu spät
Das Bundesministerium der Justiz hat den ersten Entwurf zum Gesetz gegen digitale Gewalt veröffentlicht. Es soll Betroffenen erleichtern, vor Gericht gegen digitale Angriffe vorzugehen. Es ist aber schon jetzt klar: Der Gesetzentwurf wird vor der Bundestagswahl nicht mehr in den Bundestag eingebracht werden. Trotzdem ist die Initiative des BMJ wichtig. HateAid fordert den zukünftigen Gesetzgeber daher dringend auf, den Entwurf aufzugreifen, inhaltlich nachzubessern und das Gesetz im nächsten Jahr zügig zu verabschieden.
Die Gespräche zum Gesetz gegen digitale Gewalt waren monatelang ins Stocken geraten. Schon nach Erscheinen des Eckpunktepapiers im April 2023 hatte sich eine Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Organisationen, so auch HateAid, intensiv in die Diskussion zum geplanten Gesetz eingebracht. Nun hat das Bundesministerium der Justiz schließlich doch noch einen Gesetzentwurf zur Diskussion veröffentlicht – 1,5 Jahre nach dem Eckpunktepapier, in denen trotz dringenden Handlungsbedarfs kaum etwas passiert war. An dem Ziel aus dem Koalitionsvertrag, das erste Gesetz gegen digitale Gewalt zu beschließen, ist die Ampel-Regierung gescheitert.
Dazu Josephine Ballon, Geschäftsführerin von HateAid:
„Die Regierung verpasst damit eine historische Chance. Drei Jahre lang haben wir uns dafür eingesetzt, dass Betroffene endlich besseren Zugang zum Recht bekommen. Wäre das Gesetz nicht verschleppt worden, könnten heute schon tausende Betroffene besser gegen ihre Angreifer*innen vorgehen. Jetzt kommt es darauf an, den Entwurf auf Grundlage fachlicher Stellungnahmen zu verbessern und das Gesetz so schnell wie möglich zu verabschieden, sobald die neue Regierung steht.“
HateAid sieht u. a. in folgenden Punkten Nachbesserungsbedarf:
- „All-in-one“-Auskunftsanspruch: Es muss Betroffenen in der Zukunft realistisch möglich sein, die Identität der Täter*innen zu ermitteln, um gerichtlich gegen sie vorgehen zu können. Der Gesetzgeber muss es Betroffenen daher ermöglichen, mit nur einem einzigen Verfahren – sowohl bei sozialen Netzwerken als auch bei Internetzugangsdiensten – an die notwendigen Daten zu gelangen. Hier enthält der Entwurf gute Ansätze. HateAid fordert außerdem, die Kosten des Auskunftsverfahrens zu senken. Sinnvoll wäre etwa, einen festen Gegenstandswert für ein solches Verfahren festzulegen, damit Betroffene nicht, so wie aktuell der Fall, von den Kosten abgeschreckt werden.
- Richterlich angeordnete Accountsperren: HateAid bezweifelt, dass Account-Sperren über den Einzelfall hinaus wirklich massentauglich und für Betroffene praktikabel sind. Die Umgehungsgefahr ist auch mit den im Entwurf vorgesehenen Regelungen noch sehr hoch. Täter*innen können sich z. B. leicht eine neue E-Mail-Adresse und darüber neue Accounts anlegen. Hilfreich wäre außerdem, wenn nicht die Betroffenen, sondern z. B. die Aufsichtsbehörden dafür verantwortlich wären, Anträge auf Accountsperren bei Gericht einzureichen. Grundsätzlich positiv zu bewerten ist, dass NGOs die Möglichkeit haben sollen, Anträge auf Accountsperren zu stellen. Dafür müssten sie jedoch mit den nötigen Ressourcen ausgestattet werden.
- Dieser Gesetzentwurf kann nur der Anfang sein: Die strafrechtliche Verfolgung digitaler Gewalt muss vereinfacht werden. HateAid fordert ein bundesweit einheitliches digitales Anzeigeverfahren, damit Betroffene jegliche digitale Gewalt strafrechtlich zur Anzeige bringen können – auch Beleidigungen, Verleumdungen und Bildrechtsverletzungen. Und: Die Verbreitung gefälschter Nacktaufnahmen darf nicht länger als Bagatelldelikt behandelt werden, sondern der Gesetzgeber muss einen eigenen Straftatbestand dafür schaffen, der auch die Herstellung von nicht einvernehmlich erstellten sexualisierten Deepfakes erfasst. Die psychischen Folgen für Betroffene sind zu gravierend.
Das Gesetz gegen digitale Gewalt ist heute nicht weniger notwendig als 2021, als es in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Digitale Gewalt ist allgegenwärtig, wie die Studie „Lauter Hass – leiser Rückzug” zeigt: Fast jede zweite Person wurde schon einmal online beleidigt. Und nur sehr wenige, 17 % der Befragten, haben schon einmal die Unterstützung eines Rechtsanwalts in Anspruch genommen, um beispielsweise zivilrechtlich gegen die Angreifenden vorzugehen. Stattdessen fühlen sich Betroffene häufig allein gelassen und ziehen sich aus Angst vor Hass aus öffentlichen Debatten in den sozialen Medien zurück. Das hat Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit und den öffentlichen Diskurs. HateAid hofft, dass die Parteien dieses Problem anerkennen und sobald wie möglich handeln.
HateAid gGmbH
Die gemeinnützige Organisation HateAid wurde 2018 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Berlin. Sie setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein und engagiert sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen. HateAid unterstützt Betroffene von digitaler Gewalt konkret durch Beratung und Prozesskostenfinanzierung. Geschäftsführerinnen sind Anna-Lena von Hodenberg und Josephine Ballon.
HateAid ist Trägerin der Theodor-Heuss-Medaille 2023.
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