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Bundesverfassungsgericht urteilt im ”Fall Künast”: Grundlegende Entscheidung zur Meinungsfreiheit auf Social Media

In dem von der Beratungsstelle HateAid finanzierten Verfahren hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals damit befasst, welche Kriterien für die Beurteilung von Beleidigungen in sozialen Netzwerken relevant sind. In seinem heutigen historischen Beschluss setzte sich das höchste deutsche Gericht erstmals explizit mit einem Sachverhalt auseinander, bei dem es darauf ankommt, was Politiker*innen in sozialen Netzwerken als von der Meinungsfreiheit gedeckt hinnehmen müssen. Dabei gab es Künast Recht.

Grund war eine Verfassungsbeschwerde von Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) über beleidigende Äußerungen gegen sie auf Facebook. Der Fall hatte 2019 in Deutschland für Aufsehen gesorgt, weil das Landgericht Berlin zunächst alle Äußerungen als von der Meinungsfreiheit gedeckt eingestuft hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss nun aufgehoben und an das Kammergericht Berlin zurückverwiesen, weil dieser Renate Künast in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt. Das Gericht stellt klar: Die Entscheidung des Kammergerichts Berlin genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben einer Abwägungsentscheidung. Beleidigungen im Netz können nicht einfach als sachlicher Beitrag in der politischen Debatte gewertet werden. Vielmehr können auch weitere Umstände relevant sein, wie etwa die hohe Reichweite von Äußerungen in den sozialen Netzwerken oder ob die Herabwürdigung der Betroffenen bei einer Äußerung im Vordergrund steht. Denn auch hieraus kann sich eine Persönlichkeitsrechtsverletzung ergeben.

Das Gericht betont dabei erneut, dass auch Politiker*innen in sozialen Netzwerken geschützt werden müssen, da dies die Voraussetzung für ihr gesellschaftliches Engagement sei. Auch sei schriftlichen Äußerungen – wie in sozialen Netzwerken – mehr Sorgfalt abzuverlangen als mündlichen Äußerungen im Affekt. Das Gericht merkt zudem an, dass die beeinträchtigende Wirkung auch durch eine wiederholende, anprangernde Art und Weise, etwa durch die Nutzung von Bildern, gesteigert werden kann.

Hintergrund waren 22 beleidigende Kommentare gegen Renate Künast. Diese waren von unbekannten Facebook-Nutzer*innen unter einem Falschzitat der Grünen-Politikerin gepostet worden. Das falsche Zitat, das von dem Rechtsextremisten Sven Liebich stammte, kursierte seit 2015 auf der Plattform. Die Kommentare waren beleidigend, sexistisch und diffamierend. Darunter Aussagen wie “Drecksfotze“ oder „Schlampe“. Um gegen die Verfasser*innen der Kommentare rechtlich vorzugehen, zog Renate Künast 2019 mit Unterstützung der Betroffenenberatungsstelle HateAid vor das Landgericht Berlin. Das Gericht sollte die Kommentare bewerten und Facebook gestatten, bei allen illegalen Kommentaren Auskunft über die Nutzer*innendaten zu geben.

Diesen Antrag lehnte das Gericht zunächst vollständig ab und befand alle 22 Kommentare als von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Begründung: Künast müsse als Politikerin auch überspitzte Kritik aushalten – darunter eben auch Bezeichnungen wie “Drecksfotze” und Vergewaltigungswünsche. Erst auf ihre Beschwerde hin wurden zwölf der Äußerungen durch Land- und Kammergericht Berlin in zwei weiteren Verfahren als rechtswidrige Beleidigungen eingestuft. Der Fall sorgte deutschlandweit für Aufsehen. Gegen die restlichen zehn Kommentare legte Renate Künast gemeinsam mit HateAid Verfassungsbeschwerde ein.

Dazu Josephine Ballon, Head of Legal bei HateAid:

„Das Urteil hat eine wichtige Signalwirkung an alle deutschen Gerichte: Sie dürfen es sich bei der Beurteilung von Beleidigungen in sozialen Netzwerken nicht zu einfach zu machen. Für die Frage, ob eine Äußerung beleidigend oder noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, sind die Bedingungen der sozialen Netzwerke nicht nebensächlich, sondern entscheidend. Für die Betroffenen von digitaler Gewalt, die erlebt haben, was die Reichweite, Geschwindigkeit und Dauerhaftigkeit von schriftlichen Äußerungen über sie im Netz bedeuten kann, ist das eine historische Entscheidung. Immer mehr Menschen ziehen sich aus Angst vor digitaler Gewalt aus dem Netz zurück und äußern ihre Meinung nicht mehr offen. Das Urteil zeigt, dass Gerichte derartige Fälle künftig noch gründlicher bewerten und die Betroffenen endlich ernst nehmen müssen.”

Gerade Amtsträger*innen zögen sich immer mehr aus dem öffentlichen Raum und zum Teil aus ihren Ämtern zurück, betonte Ballon von HateAid. In einer repräsentativen Umfrage von 2021 gaben 19% der Bürgermeister*innen in Deutschland an, schon einmal erwogen zu haben, ihr Amt niederzulegen aus Angst um sich selbst und ihre Familien.1 Die Betroffenen fühlten sich von Polizei und Gerichten nicht ausreichend geschützt.

Dazu Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), MdB:

“Nach jahrelanger Auseinandersetzung mit Hatespeech freut mich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sehr. Hier wurde nicht nur das öffentliche Interesse bekräftigt, dass die Persönlichkeitsrechte derer, die sich für das Land engagieren, geschützt werden. Die Fachgerichte sind auch zur sehr konkreten Abwägung im Einzelfall verpflichtet, Zurückhaltung ist auch bei Texten in den Social Media zu erwarten und die Verbreitung einer Äußerung und ihre Wiederholung zu berücksichtigen. Das ist ein Stück Rechtsgeschichte im digitalen Zeitalter.”

Rechtsanwalt Severin Riemenschneider, der Renate Künast in dem Verfahren vertreten hat, äußert sich wie folgt:

“Die Entscheidung ist ein Meilenstein. Es gehört in der Rechtsprechung leider zum Alltag, dass Herabsetzungen zu Lasten von Politikern als zulässige Meinungsäußerungen qualifiziert werden. Das Bundesverfassungsgericht ist dem heute entschieden entgegengetreten, indem es hervorhebt, dass diejenigen, die bereit sind an Staat und Gesellschaft mitzuwirken, besonders zu schützen sind.”

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