Klage gegen Twitter: HateAid und EUJS realisieren Grundsatzprozess
Update Juni 2024: Die mündliche Verhandlung fand am 4. Juni vor dem Landgericht Berlin statt. Bereits im Vorfeld versuchte die Plattform, das Verfahren erheblich zu verzögern und sich der Verantwortung für illegale Inhalte zu entziehen. Beim Gerichtstermin zog X die Zuständigkeit der deutschen Justiz in Zweifel. Als Grund führte die Plattform an, dass das Verfahren strategisch geführt werde und die Klägerinnen keine gewöhnlichen Nutzenden seien.
Das Gericht muss nun entscheiden, ob es dem folgt. Im schlimmsten Fall würde dies bedeuten, dass strategische Prozessführung gegen X nur in Irland stattfinden könnte. Die Entscheidung wird in wenigen Wochen erwartet. HateAid und EUJS sind bereit, durch alle Instanzen zu gehen und notfalls zur Frage der Zuständigkeit auch internationale Gerichte einzubeziehen.
Es geht um die Entfernung von antisemitischen, volksverhetzenden Tweets auf der Plattform, darunter Verharmlosung und Leugnung der Shoah. Ziel des juristischen Verfahrens ist es, grundlegende Verpflichtungen der Plattform bei der Moderation von strafbaren Inhalten zu klären. Das Urteil hätte Signalwirkung für zahlreiche Betroffene.
Gemeinsam haben die European Union of Jewish Students (EUJS) und HateAid in dieser Woche vor dem Landgericht Berlin eine Zivilklage gegen Twitter eingereicht. Darin kritisieren sie die mangelhafte Moderation von volksverhetzenden Inhalten auf der Plattform. Gegenstand der Klage sind sechs antisemitische und rechtswidrige Kommentare, die trotz Meldung nicht gelöscht wurden. In einem konkreten Fall von Shoah-Leugnung wurde die Löschung sogar explizit abgelehnt. Diese Praxis steht im Widerspruch zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Plattform. Dort gibt das Unternehmen an, Hass schürendes Verhalten und Gewaltandrohungen nicht dulden zu wollen. Der heute beginnende Grundsatzprozess wird daher klären, ob Nutzende einen Rechtsanspruch auf Durchsetzung der AGB haben. Damit wäre es ihnen zukünftig möglich, etwa die Entfernung von volksverhetzenden Inhalten einzuklagen. Bislang sind sie einer willkürlichen und intransparenten Moderationspraxis ausgeliefert.
Seit Jahren lässt sich die massenhafte Verbreitung antisemitischer Äußerungen im Netz beobachten. Vor allem in den sozialen Netzwerken brechen regelmäßig alle Tabus: Gewaltandrohungen gegen Jüdinnen*Juden, Verharmlosung und offene Leugnung der Shoah sind dort auch mehr als 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an der Tagesordnung. Ein Bericht des Center for Countering Digital Hate zeigte 2021, dass Social-Media-Plattformen gemeldete antisemitische Beiträge nur unzureichend löschen. Die Untersuchung ergab, dass 84 Prozent der Beiträge, die antisemitischen Hass enthielten, von den Plattformen nicht weiterverfolgt wurden. Twitter handelte laut Erhebung nur in elf Prozent der Fälle.
Dazu Avital Grinberg, die in ihrer Funktion als Präsidentin von EUJS die Klage einreicht:
„Twitter hat unser Vertrauen gebrochen. Indem sie die Verbreitung hassvoller Inhalte zulassen, versagt das Unternehmen darin, Nutzer*innen und insbesondere junge Jüdinnen*Juden zu schützen. Was online beginnt, endet nicht online. Damit kultiviert Twitter realen Hass und Gewalt und missachtet unsere demokratischen Werte. Teilhabe bedeutet für junge Menschen auch, sich online zu engagieren und entfalten zu können. Wenn Jüdinnen*Juden durch Antisemitismus und digitale Gewalt aus dem Netz verdrängt werden, wird jüdisches Leben an einem gesellschaftlich relevanten Ort unsichtbar. Das wollen wir nicht länger hinnehmen! Das Gedenken an die Shoah muss sich nicht nur in rührenden und emotionalen Reden, sondern auch in klaren Positionen, entschlossenen Handlungen und schützenden Gesetzen ausdrücken. Diese Klage ist die Antwort resilienter Jüdinnen*Juden auf das Versagen von Twitter und der Politik.“
In den AGB sichert die US-amerikanische Social Media Plattform zu, Hass und Gewalt nicht zu akzeptieren. So heißt es in der zugehörigen Richtlinie zu Hass schürendem Verhalten, dass Twitter „Missbrauch, der durch Hass, Vorurteile oder Intoleranz motiviert ist, den Kampf angesagt“ habe – insbesondere dann, wenn damit „Stimmen zum Schweigen gebracht werden sollen, die historisch ausgegrenzt waren“. Zudem heißt es in der Richtlinie zu missbräuchlichem Verhalten, dass Twitter Inhalte verbiete, „die leugnen, dass ein Massenmord oder ein anderes Ereignis mit zahlreichen Toten und Verletzten stattgefunden hat“, darunter unter anderem „Ereignisse wie den Holocaust“. Bei der Registrierung eines Accounts stimmen Nutzende diesen Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu – und verlassen sich darauf, dass deren Einhaltung durch das Unternehmen sichergestellt wird.
Doch die Realität sieht anders aus: Während die AGB Twitter viel Spielraum bei der Entfernung von Inhalten einräumen, beinhalten sie für die Nutzenden nicht viel mehr als vage Absichten. Nach der Übernahme der Plattform durch Elon Musk machte das Unternehmen immer wieder mit willkürlichen Entscheidungen zur Wiederherstellung vormals gesperrter Accounts und Personalkürzungen bei Moderationsteams Schlagzeilen.
Dazu Josephine Ballon, Head of Legal bei HateAid:
„Wir haben die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs im Netz in die Hände privater Unternehmen und Investor*innen gelegt. Twitter sichert zu, Gewalt auf seiner Plattform nicht zu dulden. Darauf müssen Nutzende sich verlassen können. Leider sehen wir in der Praxis das Gegenteil: Illegale Inhalte werden nur bestenfalls willkürlich und intransparent entfernt. Das muss sich endlich ändern. Twitter schuldet uns eine Kommunikationsplattform, auf der wir uns frei und ohne Angst vor Hass und Hetze bewegen können.“
Der Grundsatzprozess wird erstmals gerichtlich klären, ob soziale Netzwerke trotz des unverbindlichen Wortlauts der AGB dazu verpflichtet sind, die eigenen Regeln umzusetzen. Wenn das Landgericht Berlin der Argumentation von HateAid und EUJS folgt, würde das den Schutz von User*innen deutlich verbessern. Das gilt insbesondere in Fällen von Volksverhetzung, in denen Nutzende nicht persönlich betroffen sind. Bislang gibt es keine Möglichkeit, gegen die Nichtlöschung von Volksverhetzung vorzugehen. Die einzige Option ist eine Beschwerde beim Bundesamt für Justiz als zuständiger Aufsichtsbehörde. Doch auch diese könnte lediglich bei Nachweis eines systematischen Versagens ein Bußgeld verhängen. Das ist seit Inkrafttreten des NetzDG nicht ein einziges Mal vorgekommen.
Der Prozess ist Teil des Landecker Digital Justice Movement, einer Initiative der HateAid gGmbH, die exklusiv von der Alfred Landecker Foundation unterstützt wird.
Dazu Silke Mülherr, Co-Geschäftsführerin und Head of External Relations der Alfred Landecker Foundation:
„Es muss uns gelingen, Rechtsstaatlichkeit zu einem geltenden Prinzip auf Social Media zu machen. Ansonsten bleiben die User*innen der Willkür von Twitter und Co. ausgeliefert. Dieser Grundsatzprozess unterstützt nicht nur eine Community, die täglich Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt ist. Sondern die Klage sendet auch ein klares Signal: Wir als Gesellschaft sind nicht länger bereit, systematischen Hass und Volksverhetzung auf Social Media hinzunehmen.“
Aufzeichnung der Pressekonferenz zum #TwitterTrial:
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Weitere InformationenÜber die Organisationen
European Union of Jewish Students (EUJS)
Die European Union of Jewish Students (EUJS) ist eine pluralistische, inklusive und überparteiliche Dachorganisation. Sie besteht aus 36 nationaler jüdischer Studierendenunionen in ganz Europa und vertritt diese in internationalen Institutionen und Organisationen. Die EUJS wurde 1978 gegründet mit Mitgliedern, die sich von Russland über Skandinavien bis zum Vereinigten Königreich erstrecken. EUJS wird von einer Präsidentin, einem Geschäftsführer, acht Vorstandsmitgliedern und einem Büro geleitet. Der Hauptsitz befindet sich in Brüssel. EUJS ermächtigt junge jüdische Erwachsene für einen positiven Beitrag zur europäischen Gesellschaft. Somit erzielt EUJS eine pulsierende und nachhaltige jüdische Zukunft in Europa. Die Mission ist, jüdische Gemeinden und die europäische Gesellschaft durch jüdischen Studierendenaktivismus and Advocacy zu stärken. EUJS verbindet unabhängige und selbstorganisierte Studierendenunionen und unterstützt diese in ihren Zielen, durch Stärkung ihrer religiösen, spirituellen, kulturellen und sozialen Herkunft als auch Sicherstellung ihrer Kontinuität.
Für weitere Informationen über EUJS besuchen Sie die Webseite: https://eujs.org
HateAid gGmbH
Die gemeinnützige Organisation HateAid wurde 2018 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Berlin. Sie setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein und engagiert sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen. HateAid unterstützt Betroffene von digitaler Gewalt konkret durch Beratung und Prozesskostenfinanzierung. Gründungsgeschäftsführerin ist Anna-Lena von Hodenberg. Im Rahmen des Landecker Digital Justice Movements finanziert HateAid Grundsatzprozesse gegen Online-Plattformen, um grundlegende Nutzer*innenrechte gerichtlich klären zu lassen.
Pressekontakt: presse@hateaid.org, Tel. +49 (0)30 25208802