HateAid realisiert Grundsatzprozess gegen Facebook
Ziel ist die konsequente Löschung von rechtswidrigen Postings, die mehrfach hochgeladen und geteilt wurden. Klägerin ist Renate Künast. Das Urteil könnte Rechte von Betroffenen grundlegend verändern.
In einem Grundsatzprozess soll geklärt werden, ob die Social-Media-Plattform Facebook proaktiv wort- und sinngleiche Inhalte finden und löschen muss, die ihr einmal als rechtswidrig gemeldet wurden. Dafür reichte Renate Künast vor dem Landgericht Frankfurt am Main Klage gegen die Social-Media-Plattform ein. Unterstützt wird sie dabei von der Betroffenenberatung HateAid im Rahmen der neuen Initiative „Landecker Digital Justice Movement”.
Konkret geht es in dem Prozess um ein Meme, das ein Bild der Politikerin mit einem Falschzitat zeigt. Es wurde in zahlreichen Fällen auf der Plattform geteilt. Die Veröffentlichung dieses Memes ist rechtswidrig. Die Klägerin fordert nun von Facebook, dass die Plattform alle weiteren auf der Plattform geteilten und hochgeladenen identischen oder sinngleichen Memes sucht, prüft und löscht. Ausgenommen sollen nur diejenigen Beiträge sein, bei denen das Falschzitat erkennbar als solches gekennzeichnet ist.
Bisher müssen Betroffene jedes einzelne geteilte oder erneut hochgeladene wortgleiche Posting selbst suchen, finden und dann bei der Plattform melden. Social-Media-Plattformen verweigern die Mitwirkung hieran selbst dann, wenn bekannt ist, dass rechtswidrige Inhalte massenhaft verbreitet werden.
Dazu Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid:
„Es ist unzumutbar, dass Betroffene von digitaler Gewalt gezwungen sind, die Social-Media-Plattformen zu durchkämmen und jeden einzelnen gleichen, rechtswidrigen Inhalt selbst zu suchen und einzeln zu melden. Das kann zu einer Lebensaufgabe werden. In der Beratung sehen wir gehäuft solche Fälle. Diese Klage ist stellvertretend für die vielen Menschen, die das derzeit aushalten müssen und die bisher keine finanziellen Mittel oder auch die Kraft hatten, gegen die großen Social-Media-Plattformen vor Gericht zu ziehen. Wir wollen ihnen ihre Würde zurückgeben. Dafür gehen wir wenn nötig durch alle Instanzen.”
Gegenstand der Klage ist ein Fall von übler Nachrede. Gerade wenn es sich um Rufmord handele, sei es für Geschädigte oft unerträglich, dass die falschen Inhalte weiter im Netz blieben und in der Zukunft von ihren Arbeitgebern, Familien oder Kindern gefunden würden, betont HateAid. Nutzer*innen können sich in der aktuellen Situation nie sicher sein, ob wirklich alle Verleumdungen entfernt sind, da diese oft auch u.a. in geschlossenen Gruppen und so für sie gar nicht auffindbar sein können. Das sei eine unzumutbare psychische Belastung und ein mächtiges Druckmittel, mit dem Leben oder Karrieren zerstört werden könnten.
Dazu Renate Künast (Bündnis 90/die Grünen), MdB:
„Falschzitate sind ein gefährliches Werkzeug des organisierten Rechtsextremismus, um gezielt gesellschaftlich und politisch engagierte Menschen zu diskreditieren und zu verhetzen. So orchestrieren sie Hass ganz ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Ich habe mehrfach erlebt, dass sich Falschzitate nicht wieder einfangen lassen, auch wenn sie in Faktenchecks widerlegt werden oder bereits durch Gerichte als Verleumdung qualifiziert wurden. Ich möchte für alle Betroffenen erreichen, dass das Vorgehen gegen Falschzitate nicht zu ihrer energiefressenden Lebensaufgabe wird.“
Grundlage für die Klage ist das Glawischnig-Piesczek vs. Facebook Urteil (Oktober 2019), dass die österreichische Politikerin Eva Glawischnig vor dem Europäischen Gerichtshof anstrengte. Hier entschied das Gericht, dass auch die Entfernung wortgleicher und sinngleicher Postings von der Social-Media-Plattform verlangt werden kann. Bisher hat es dazu aber in Deutschland kein Urteil gegeben, so dass Rechtssicherheit für die Betroffenen in Bezug auf den Umfang der Löschpflicht fehlt.
Dazu Rechtsanwalt Matthias Pilz, aus der Kanzlei Jun Rechtsanwälte, welche Frau Künast vor Gericht vertritt:
„Wirksamen Schutz für Betroffene gibt es nur, wenn Facebook alle gemeldeten rechtswidrigen Inhalte sucht und vollständig löscht. Nur Facebook hat den Schlüssel dazu.“
Die Verbreitung von Falschzitaten und Memes geschieht online sehr schnell und ist kaum aufzuhalten. Bleiben diese Verleumdungen online, hat das nicht nur drastische Konsequenzen für die betroffene Person, sondern für unsere Gesellschaft. Es trifft vermehrt (Kommunal-)Politiker*innen, Engagierte oder Journalist*innen. Das Ziel: Sie sollen eingeschüchtert und mundtot gemacht werden, indem ihr Ruf und ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig beschädigt werden. Eine häufige Konsequenz ist der Rückzug aus der Politik oder dem Ehrenamt.
Der Prozess ist Teil des Landecker Digital Justice Movement, einer Initiative der HateAid gGmbH, die exklusiv von der Alfred Landecker Foundation unterstützt wird.
Dazu Andreas Eberhardt, CEO und Gründungsdirektor der Alfred Landecker Foundation:
„Die Zukunft der Demokratie entscheidet sich im Internet. Der Fall von Renate Künast zeigt deutlich, dass die großen digitalen Plattformen dringend ein Demokratie-Update benötigen. Unsere Förderpartnerin HateAid soll Facebook & Co. mit dem ‘Landecker Digital Justice Movement’ dieses Demokratie-Update verpassen und Signalwirkungen für alle Opfer digitaler Gewalt erzeugen. Wir als Stiftung sehen uns in der Rolle des Inkubators, der HateAid als gemeinnützige Organisation aufs nächste Level bringt und dazu befähigt, demokratische Räume nachhaltig freizukämpfen.”
Das Landecker Digital Justice Movement soll mit einem Fördervolumen von 3,3 Millionen Euro über drei Jahre demokratische Räume, Meinungsfreiheit und –vielfalt stärken. Dazu sollen weitere Grundsatzprozesse folgen, deren Urteile als Orientierung für deutsche Gerichte dienen könnten und die Rechte von Betroffenen im Netz nachhaltig verändern könnten. Darüber hinaus ermöglicht das Landecker Digital Justice Movement HateAid dazu, erstmals auf EU-Ebene im Namen aller von digitaler Gewalt Betroffenen auf die Gesetzgebung einzuwirken. Groß angelegte Kommunikationskampagnen werden die Arbeit der Initiative begleiten.
Weitere Informationen:
Pressekontakt: presse@hateaid.org, Tel. 030 / 252 088 37
Alfred Landecker Foundation
Die Alfred Landecker Foundation fördert und beschleunigt die Entwicklung einer offenen, demokratischen und diskriminierungsfreien Gesellschaft – innovativ, mutig und disruptiv.
Als Inkubator für Demokratie im digitalen Zeitalter stellt die Stiftung technologischen Fortschritt und umfassende Expertise in den Dienst offener Gesellschaften, der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus und einer zeitgemäßen Erinnerungskultur. Die Stiftung schafft Netzwerke, Räume und Wissen, indem sie interdisziplinäre Projekte unterstützt, fördert, vernetzt und professionalisiert.
Die Alfred Landecker Foundation wurde 2019 von der Stifterfamilie Reimann gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Zuvor hatte der von ihr beauftragte Wirtschaftshistoriker Professor Paul Erker ermittelt, dass die Firmenleitung des Familienunternehmens Joh. A. Benckiser GmbH in der Zeit des Nationalsozialismus Unterstützerin des NS-Regimes war. Um sich ihrer daraus erwachsenden Verantwortung zu stellen, ist es den Firmenerben ein Anliegen, noch lebende Opfer des Holocaust zu unterstützen und, als Lehre aus der Geschichte für die Gegenwart, Demokratie und Menschenrechte zu fördern und zum Erhalt und der Stärkung einer pluralistischen Gesellschaft beizutragen.
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website: https://www.alfredlandecker.org/
Pressekontakt: press@alfredlandecker.org
„Glawischnig-Urteil“
“Glawischnig-Urteil”: Entscheidung des EuGHs, Urteil vom 03.10.2019 – C-18/18 in der Sache Glawischnig-Piesczek
Eva Glawischnig-Piesczek ist eine (ehemalige) österreichische Grünenpolitikerin. Sie verklagte Facebook auf die Entfernung diffamierender und beleidigender Inhalte. Der Gerichtshof der europäischen Union entschied im Oktober 2019 über die Vorlage des Obersten Gerichtshofs Österreich. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Online-Plattformen durch die Gerichte der Mitgliedsstaaten verpflichtet werden können, nicht nur den gemeldeten, sondern auch gleiche und sinngleiche Inhalte zu löschen. Das Gericht ließ dabei viele Fragen zur genauen Ausgestaltung dieser Pflicht, z. B. technischer Hilfsmittel und manueller Prüfpflichten, offen.