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Freie Bahn für Propaganda? Mit #Kriegstreiber in die Mitte der Gesellschaft  

Desinformation, irreführende Inhalte und Propaganda – seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine spielen sie gerade auf den Social-Media-Plattformen eine große Rolle. Auch Twitter gibt an, auf diese aktuellen Entwicklungen zu reagieren. Mitte März kündigte der Kurznachrichtendienst in diesem Zusammenhang folgendes Ziel an: Die Plattform will Nutzer*innen nicht durch kontextlose Informationen in die Irre führen. Als irreführende Information könnte zum Beispiel ein Tweet gelten, mit dem User*innen altes Videomaterial wiederveröffentlichen und suggerieren, dieses Video stamme aus dem aktuellen Krieg in der Ukraine. Diese Prämisse gelte sogar auch für Inhalte, die legal und im Rahmen der internen Twitter-Regeln seien.

Um dieses Ziel durchzusetzen, sagte Twitter zu, die Reichweite entsprechender Tweets zu reduzieren und die Tweets nicht proaktiv in die Timeline anderer Nutzer*innen ausspielen zu lassen. Weiterhin wolle die Plattform Labels zu den Inhalten hinzufügen, die Kontext zur Einordnung liefern können. Doch genaue Belege und Zahlen dafür, wie oft und welche dieser Maßnahmen wirklich durchgeführt wurden, gibt es bisher nicht. Für HateAid und andere zivilgesellschaftliche Organisationen ist die Umsetzung dieser Regelung daher kaum nachvollziehbar

#Kriegstreiber: Wir stellen Twitter auf die Probe 

Ab April 2022 verbreitete sich der Begriff „Kriegstreiber” blitzschnell auf Twitter. Unsere Recherchen zur Verwendung von #Kriegstreiber deuten auf gezielte Diffamierungskampagnen unter dem Hashtag hin. Viele Accounts, die den Begriff „Kriegstreiber” verbreiten, beschuldigen Personen, die sich bisher solidarisch mit der Ukraine gezeigt haben, den Krieg in der Ukraine zu befeuern. Das Ziel: Die Glaubwürdigkeit von Politiker*innen, Journalist*innen und engagierten Bürger*innen zu untergraben. Und sie dadurch zum Schweigen zu bringen oder sogar ganz aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. 
 
Wir wollten wissen, wie Twitter mit den Beiträgen, die pro-Kreml Propaganda und „Kriegstreiber“-Beschuldigungen umfassen, verfährt. Deswegen meldeten wir 74 kritische Beiträge, die Politiker*innen und andere Personen als „Kriegstreiber“ beschuldigten. Diese waren etwa zur Hälfte rechtlich relevant oder ein Verstoß gegen die internen Twitter-Richtlinien. Das Ergebnis hat uns überrascht. 

Unsere Erwartung:

Twitter hätte 39 der gemeldeten Beiträge nach unserer Einschätzung entfernen müssen, entweder als Beleidigung nach dem Strafgesetzbuch oder als Verstoß gegen die Twitter-Regeln. Die übrigen 35 gemeldeten Beiträge hätte Twitter aufgrund der Einordnung als Kreml-freundliche Propaganda entfernen können. Hier wollten wir in der Stichprobe ermitteln, wie Twitter die neuen Richtlinien anwendet. 

Das Ergebnis: Kein einziger der insgesamt 74 Beiträge wurde entfernt. 

235 mal geteilt, 900 geliked: Hohe Reichweiten für Propaganda 

Unsere Twitter-Recherche zeigt nicht nur, dass Twitter fragwürdige Beiträge duldet. Sie zeigen auch: Es ist nicht erkennbar, dass Twitter dem eigenen Versprechen, die Beiträge zu drosseln, nachkommt. Denn tatsächlich erlangen Tweets mit „Kriegstreiber“-Aussagen teilweise sehr hohe Reichweiten. 900 Likes erhielt ein Tweet vom 20. April 2022. Darin werden die Politiker*innen Hofreiter, Scholz und Baerbock beschuldigt, einen Atomkrieg befeuern zu wollen. Uns liegen weitere Tweets vor, die mit 60 oder auch mit 100 Likes eine recht hohe Reichweite entwickelten.  

Beispiel:

Ein Tweet: "Wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist, erinnert ihr euch hoffentlich alle daran wer uns mit aller Gewalt in einen Atomkrieg hetzen wollte. #Baerbock #Hofreiter #Kriegstreiber #GrünerMist #NoGrün #Scholz
Dieser Tweet wurde 235 mal auf Twitter geteilt, 11 mal zitiert und 911 mal geliked.

Die überwiegende Zahl dieser Tweets entstammt Retweets oder Replys auf Originalcontent von Accounts mit enormer Reichweite. Hier handelt es sich vor allem um offizielle Accounts von Bundespolitiker*innen, Journalist*innen, großer Medienhäuser und bevorzugt auch den öffentlich-rechtlichen Kanälen, wie Tagesschau und ZDF.  Die Accounts, die pro-Kreml Propaganda verbreiten, nutzen als Trittbrettfahrer die große Reichweite politischer und journalistischer Accounts. Sie kommentieren und teilen diese und schaffen es so über deren Followerschaft bis in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen.

So wurden „Kriegstreiber“-Anschuldigungen besonders häufig unter den Beiträgen der Twitter-Accounts der Medien Tagesschau (3,6 Mio. Follower), BILD (1,9 Mio. Follower), Die Welt (1,7 Mio. Follower) gesetzt. Unter den Accounts von Politiker*innen wurden insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (489.000 Follower), Friedrich Merz (CDU-Vorsitzender, 230.000 Follower), Andrij Melnyk (Botschafter der Ukraine in Deutschland, 136.000 Follower) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (124.000 Follower) genutzt, um die „Kriegstreiber“-Narrative zu verbreiten. 

Wir müssen vermuten, dass das kein Zufall, sondern Strategie ist. Eine Strategie mit dem Ziel, Maßnahmen der Plattformen zu umgehen und gleichzeitig so viele Menschen wie möglich zu erreichen.  

Eine Frau tippt an einer Tastatur.
Es gibt zahlreiche Pro-Kreml-Accounts, die die Verbreitung von #Kriegstreiber auf Twitter weiter befeuern. Foto: Pexels / Cotton Bro

Der Schmale Grat zwischen Propaganda und Meinungsfreiheit 

Für die Plattformen ist dies keine leicht zu lösende Situation. Die überwiegende Zahl der Beiträge, welche das „Kriegstreiber“-Narrativ bedienen, verstößt im Fall von Twitter allenfalls gegen die internen Richtlinien. Sie verstoßen aber nicht gegen das Gesetz. Aber selbst die Beiträge, die gegen die Twitter-Regeln verstoßen, entfernt die Plattform nach unseren Erkenntnissen auch nach Meldung offenbar nicht. Das ist enttäuschend und läuft dem zuwider, was die Plattform öffentlich verspricht.

Bei dem „Kriegstreiber“-Narrativ handelt es sich weder um eindeutige Hassrede, weil niemandem der Tod gewünscht wird und auch nicht um eine eindeutige Desinformation. Und trotzdem stellen Kampagnen wie diese die Plattformen vor ein Dilemma: Einerseits sind sie nicht verpflichtet zu handeln. Andererseits sehen sie zu, wie sie selbst und die von ihnen erschaffenen Empfehlungssysteme, die Algorithmen, für zielgerichtete und strategische Kriegspropaganda missbraucht werden. Denn vor allem polarisierende Inhalte werden häufig geteilt und von den Empfehlungssystemen der Plattformen verstärkt. So verbreiten sich nicht nur die „Kriegstreiber“-Beschuldigungen, sondern auch Hatespeech und Desinformation rasend schnell im Netz. 

Twitter und Co. müssen jetzt handeln! 

Damit die ohnehin schon überhitzte Debatte nicht noch weiter befeuert wird und der Schaden gering gehalten werden kann, braucht es jetzt wirksame Maßnahmen. Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges in der Ukraine können sich die Plattformen nicht auf „Neutralität” berufen, sondern müssen sich entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte sie stehen wollen. Die Reichweite von Propaganda und Desinformation muss effektiv eingedämmt werden. Twitter und die übrigen Social-Media-Plattformen müssen Hinweisen auf einen strategischen Missbrauch durch hochaktive Accounts nachgehen und untersuchen, ob diese Accounts authentisch sind. Das entsprechende Melden dieser Accounts ist bisher allerdings nicht ausreichend von den vorhandenen Kategorien in den Meldewegen der Plattformen für Nutzer*innen abgebildet.  

Unsere Handlungsempfehlungen an die Social-Media-Plattformen: 

  1. Maßnahmen der Plattformen müssen dynamisch sein, um auf neue Entwicklungen gut reagieren zu können und die strategische Verbreitung von Propaganda verhindern zu können. Beispiele dafür könnten sein: Das zeitweise Blocken von besonders aktiven Accounts oder das Ausblenden (hiding) von Kommentaren. Auch die von Twitter bereits angekündigte Vergabe von Labels für Tweets und Accounts, welche die Verbreitung verhindern, halten wir für sinnvoll.
  1. Schädigende und bedrohliche Beiträge, abseits von Hatespeech und Desinformation, müssen in die Community-Richtlinien und die Risikobeurteilungen aufgegriffen werden. 
  1. Nutzer*innen, die Beiträge melden, sollten die Möglichkeit haben, bei der Kennzeichnung von Inhalten die Kategorie “Desinformation”, sowie „Propaganda“ oder einen ähnlichen Begriff auszuwählen, um die Moderation der Inhalte zu verbessern.  Erste Versuche gibt es hier bereits z. B. auf Facebook und TikTok.
  1. Gemeldete Beiträge, die gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen, müssen zügig von den Plattformen entfernt werden.  


 

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