Feindbild Wissenschaft
Sommer 2024: Überschwemmungen in Österreich, Tschechien und Polen. Brennende Wälder. Sterbende Artenvielfalt. Meteorolog*innen berichten darüber.
Und sie ernten dafür Hass. Denn Hater*innen sehen in seriösen Wissenschaftsjournalist*innen „Marionetten der Klimahysterie”. Sie beleidigen sie als „Systemschwätzer” oder, wenn es sich um öffentlich-rechtliche Reporter*innen handelt, als „Mietmaul”. Die Szene, der dieser Hass entspringt, ist europaweit aktiv.
Das zeigt etwa ein Beispiel aus Spanien: Als das Land 2023 von einer beispiellosen Hitzewelle heimgesucht wurde, bekamen Vorsitzende des Meteorologischen Instituts haufenweise Beleidigungen und Morddrohungen.
Wissenschaftlich ausgebildete Wettermoderator*innen zeigen nicht nur, wo und wann ein Regentief heranzieht. Sie ordnen auch ein. Denn Wetter und Klimakrise sind zwar nicht dasselbe, aber letzteres wirkt sich auf ersteres aus.
Dann fallen also Sätze wie: „Das, was heute als extrem gilt, wird in zehn Jahren unsere Normalität sein.” Oder: „Die schwindende Artenvielfalt ist kein natürliches Ereignis. Sie wird durch uns Menschen verursacht, durch die Art, wie wir auf diesem Planeten leben.”
Das sind keine Meinungsäußerungen, sondern Fakten. Und die Herausstellung der Klimaveränderung ist kein persönliches Anliegen der TV-Meteorolog*innen – sondern gehört als globale Krise und als Wirkfaktor für verschiedene Extremwetterereignisse schlichtweg zur journalistisch sauberen Berichterstattung über das Wetter dazu.
Und: Unsere Gesellschaft wird von beispiellosen Desinformationskampagnen heimgesucht. Desinformation gilt mittlerweile als größtes Risiko weltweit. Wissenschaftskommunikation spielt da eine wichtige Rolle: Denn je anschaulicher und zugänglicher Fakten vermittelt werden, desto resilienter, also widerstandsfähiger, werden die Menschen gegenüber Fake News. Das weiß auch die Bundesregierung – im Koalitionsvertrag ist deshalb festgehalten, Wissenschaftskommunikation systematisch zu stärken.
Auf Sichtbarkeit folgt Online-Hetze
Der Hass trifft bei weitem nicht nur die Wetterexpert*innen, die Fakten zum Klimawandel präsentieren. Er entlädt sich auch an Virolog*innen, Physiker*innen, Historiker*innen, Soziolog*innen. Denn Wissenschaftler*innen haben den akademischen Elfenbeinturm längst verlassen. Das romantische Bild von sich einsam und jahrelang in ihren Texten vergrabenden Forscher*innen ist heute nicht mehr gültig.
Sie sitzen in Talkshows, schreiben Gastbeiträge für große deutsche Tageszeitungen und informieren auf ihren Social-Media-Kanälen über ihre Forschung. Viele Wissenschaftler*innen sind auf diese Sichtbarkeit angewiesen. Denn sie macht es wahrscheinlicher, zu Panels und Tagungen eingeladen oder als Autor*in für ein Paper angefragt zu werden.
Doch genau diese Sichtbarkeit macht Wissenschaftler*innen auch besonders verwundbar. Eine bundesweit repräsentative Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zeigt: Fast jede*r zweite Wissenschaftler*in hat bereits Anfeindungen, Beleidigungen oder konkrete Drohungen erlebt. 70 % der Befragten sagten, sie hätten eine Zunahme von Wissenschaftsfeindlichkeit beobachtet.
Clemens Blümel, der die Studie gemeinsam mit seinen Kolleg*innen koordinierte, berichtete in einem Interview mit der FAZ, es seien insbesondere spezifische Trigger-Themen, die Hass entzünden: Gendern, der russische Krieg gegen die Ukraine – und Impfen.
Die Corona-Pandemie als Brandbeschleuniger
Als regelrechter Brandbeschleuniger für die Radikalisierung von Wissenschaftsfeind*innen wirkte die Corona-Pandemie. Täter*innen versandten Morddrohungen, schlossen sich in Telegram-Gruppen zusammen und planten ganze Kampagnen gegen Wissenschaftler*innen, die über das Virus und seine Folgen aufklärten.
Die Gewalt im analogen Leben ließ nicht lange auf sich warten: Virologe Christian Drosten erhielt ein Paket mit einer als „positiv” gekennzeichneten Flüssigkeit: „Trink das”. Ein belgischer Virologe musste mit seiner Familie aus seinem eigenen Haus evakuiert werden, nachdem ein ehemaliger Scharfschütze des Militärs angekündigt hatte, ihn ins Visier zu nehmen. Eine österreichische Ärztin nahm sich das Leben, nachdem sie monatelang von Impfgegner*innen unter Druck gesetzt worden war.
Besonders betroffen sind dabei ohnehin schon marginalisierte Forscher*innen.
„Du gehörst ins Corona-KZ!”, stand in einer E-Mail an die Schwarze Berliner Infektiologin Marylyn Addo. Für all den Hass, der ihr während der Pandemie entgegenschlug, hat sie einen eigenen E-Mail-Ordner angelegt.
In einem Interview sagte sie: „Ich bin eine Frau, eine Frau in einer Leitungsposition, eine Frau in der Wissenschaft und dunkelhäutig.” All das führe dazu, dass Täter*innen sie besonders gerne zum Schweigen bringen wollen.
Noch ist keine Besserung in Sicht
Klar ist: Die Lage verschärft sich weiter. Um das festzustellen, reicht ein Blick auf die Plattform X, auf der viele Wissenschaftler*innen ihre Expertise teilen. Karsten Schwanke, preisgekrönter Meteorologe und Klimajournalist bei der ARD, postet dort ein Selfie von sich im Zug: „Auf dem Weg zum Extremwetterkongress”. In den Kommentaren: „Auf zum Sektentreff mit Zwangsgebühren finanziert”. Und: „GRÜNE SIND DIE GRÖßTEN KLIMASCHÄDLINGE”.
Und die Institute? Sind noch immer häufig überfordert mit dem Hass, der ihren Mitarbeiter*innen entgegenschlägt – auch, weil sich digitale Gewalt zwar häufig an Individuen entlädt, jedoch die gesamte Forschung im Hintergrund mitgemeint ist.
Weil es lange keine zentrale Anlaufstelle für betroffene Wissenschaftler*innen gab, hat sich HateAid-Partner Scicomm-Support der Sache angenommen: eine Hotline, die Einzelberatungen und Leitfäden anbietet – und Schulungen veranstaltet, in denen Institute sich mit dem Thema befassen können.
Wenn du online über Wissenschaft aufklärst oder selbst Wissenschaftler*in bist und digitale Gewalt erlebst, kannst du dich immer auch an unsere Berater*innen wenden.
Titelbild: Shutterstock/Standret