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Menschenrechte! Wir sprechen mit … Lanna Idriss

Lanna Idriss ist Politilogin, Islamwissenschaftlerin und seit 2019 die Geschäftsführerin von Amnesty International Deutschland e. V. Außerdem hat sie gemeinnützige Vereine und Netzwerke gegründet und engagiert sich besonders für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und für einheimische und geflohene Kunstschaffende.

Im Interview erzählt sie uns von ihren persönlichen Erfahrungen mit digitaler Gewalt, spricht mit uns über Feminismus und darüber, wie Menschenrechte auch in der Zukunft geschützt werden können.

Frau Idriss, Sie sind seit 2019 die Geschäftsführerin bei Amnesty International Deutschland e. V., der deutschen Sektion der weltweit größten Bewegung, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzt. In Deutschland nimmt man häufig an, brauche es diesen expliziten Schutz nicht mehr, da die Menschenrechte geachtet würden. Ist das wirklich so?  

Zunächst möchte ich gerne ein Grundprinzip von Amnesty erklären: Wir arbeiten aus Prinzip im seltensten Fall zum eigenen Land. Das erklärt sich durch Neutralitätsgesichtspunkte. Aus Deutschland heraus arbeiten wir also zu Themen in der ganzen Welt und ich denke, es steht nicht zur Debatte, dass der Menschenrechtsschutz auf der ganzen Welt in Gefahr ist – und es immer schon war und auch weiterhin sein wird.  

Wir weichen natürlich auch in manchen Themen davon ab, z. B. beim Thema Polizeigewalt und zum anderen bei der Menschenrechtsbildung. Bei diesen beiden Punkten gibt es diverse Beispiele dafür, dass auch in Deutschland der Schutz der Menschenrechte nicht selbstverständlich ist. Menschenrechtsbildung beispielsweise ist etwas, das überwiegend nicht in den Schulen oder Universitäten gelehrt wird. Und ich bin der Meinung, dass uns als Gesellschaft diese fehlende Verankerung im Bildungssystem mittlerweile auf die Füße fällt. Viele Jugendliche wissen beispielsweise nicht, was Amnesty ist und was wir machen. Dementsprechend haben viele Menschen häufig auch gar kein Grundverständnis dafür, welche Rechte sie haben – auch im Internet! Bei HateAid erlebt ihr das sicherlich auch. Das ist eine riesige Baustelle. Und schon allein das zeigt: Auch in Deutschland braucht man den expliziten Schutz der Menschenrechte.  

Menschenrechte im Internet – ein wichtiges Thema. Inwiefern sehen Sie die Menschenrechte online bedroht und welche Faktoren spielen bei dieser Bedrohung in der digitalen Welt eine Rolle, die analog weniger zutage treten?  

Das ist eine sehr gute Frage. Dazu müssen wir erstmal festhalten: Der Grundrecht- und auch der Menschenrechtsschutz ist im Internet haargenau derselbe wie auch im analogen Leben. Spannend ist, dass viele Menschen das so überhaupt nicht annehmen, sondern viel eher denken, dass das Internet ein rechtsfreier Raum sei. Das ist es aber natürlich nicht! Trotzdem erleben wir, dass Bürger*innen ebenso wie Institutionen davon ausgehen, dass Persönlichkeitsrechte die Meinungsfreiheit eingrenzen würden. Immer schon und grundsätzlich ist im Grundgesetz – und somit auch in den Menschenrechten – festgehalten, dass sich Menschen analog und digital frei äußern können, solange sie nicht die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten. Dass dies trotzdem passiert, liegt vor allem an der bislang mangelnden Nachverfolgung von Straftaten durch Polizei und Staatsanwaltschaften. Wir können bei dieser Nachverfolgung aber mittlerweile zum Glück erste Veränderungen und Verbesserungen sehen. 

Trotzdem ist es weiterhin so, dass Betroffene im Netz bei der Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte klagen müssen. So zuletzt beispielsweise Renate Künast im Grundsatzprozess gegen Facebook. Im analogen Raum – behaupte ich jetzt – käme gar keine*r auf die Idee, dass man selbst aktiv werden und klagen müsste. Da wäre das von vornherein ausgeschlossen. Um dieses große gesellschaftliche Missverständnis auszuräumen und, wie es Andreas Eberhardt von der Alfred Landecker Foundation gesagt hat, dem Internet einen „Demokratisierungsschub“ zu verpassen, braucht es Organisationen wie HateAid und auch mittelbar Amnesty International. Mithilfe unserer Organisationen muss nachgebessert werden, was im Zuge der Digitalisierung und Transformation versäumt wurde, um den Grundschutz wiederherzustellen.  

Vor Ihrer Arbeit bei Amnesty International Deutschland haben Sie zwei gemeinnützige Vereine gegründet, die u. a. darauf ausgerichtet sind, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen zu fördern. Inwiefern sind Frauen, auch in Deutschland, nach wie vor benachteiligt?  

Dazu kann ich ganz klar sagen: Es besteht keine Gleichberechtigung für Frauen in Deutschland. Punkt. Sie ist nicht existent. Natürlich wissen wir, dass das Grundgesetz die Gleichberechtigung voraussetzt, aber die Praxis ist eine andere.  

In meiner vorherigen Arbeit habe ich mich, da ich zur Hälfte Syrerin bin, vor allem für Frauen und kulturelle Teilhabe im oder aus dem Nahen und Mittleren Osten in Deutschland engagiert und tue es weiterhin. Frauen mit einem sogenannten migrantischen Hintergrund, die nach Deutschland kommen, erleben doppelte und dreifache Härte, was den nichterfüllten Gleichheitsgrundsatz von Frauen in Deutschland angeht. Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sagt ganz klar, dass alle Menschen die gleiche Teilhabe zum Beispiel an Kulturgütern, an Wissenschaft und auch am Internet – das wird so nicht explizit genannt, kann aber so verstanden werden – haben sollen. Wenn man allerdings weder Zugangs- oder Bildungsmöglichkeiten hatte, geht der Person, wenn sie nach Deutschland kommt, ein kompletter Raum verloren. Wenn man dann zusätzlich noch Hatespeech und Belästigung ausgesetzt ist, betrifft dies doppelt stark und man zieht sich zurück und hat keinerlei Aussicht auf tatsächliche Gleichstellung. Dabei muss gleichzeitig betont werden, dass IT-Berufe im Nahen und Mittleren Osten unter Frauen sehr viel anerkannter sind als hier. Wenn diese Frauen nun durch Flucht oder aus anderen Gründen nach Deutschland kommen, erleben sie einen „Backlash“, da Frauen in IT-Berufen in Deutschland noch wenig vertreten und geachtet sind. Deshalb fördere ich vor allem die Teilhabe von Frauen dieser Branche.  

Zu Deutschland selbst möchte ich sagen, dass ich eine klare Vertreterin der Frauenquote bin. Solange der Anteil der Männer in den Führungspositionen so hoch ist, ist jegliche Art von Gleichstellung eine Farce. Sie findet nicht statt. Es braucht diversere Führungsstrukturen und ich bin davon überzeugt, dass wir dazu Frauen in Führungspositionen brauchen, die wiederum andere Frauen fördern. Nur so kann der Bias aufgelöst werden, der nach wie vor dazu führt, dass Männer lieber Männer einstellen. Dazu siehe man sich nur die Debatte um Annalena Baerbock an: Jeder Mensch weiß mittlerweile über ihr Privatleben und ihre Kinder Bescheid. Aber welcher männliche Politiker Kinder hat, das weiß und interessiert niemanden.  

Ein anderer Bereich, in dem ich mich sehr engagiere und der die Ungleichberechtigung der Frau in Deutschland aufzeigt, ist die sexualisierte Gewalt. Nach wie vor liegt die Beweislast bei der Frau. Sie muss beweisen, dass ihr der Übergriff angetan wurde, was in vielen Fällen zu einer Täter*innen-Opfer-Umkehr führt. Jede Frau, die den Weg der Anzeige geht, nachdem sie sexualisierte analoge oder digitale Gewalt erlebt hat, hat einen wahnsinnig schweren Weg vor sich. Ich habe diesen Weg hinter mir. Ich habe sehr viel Geld bezahlen müssen, um mich dagegen wehren zu können. Deshalb bin ich umso froher über die Existenz von HateAid. Vielen Betroffenen fehlen die finanziellen Mittel und sie sind zudem durch die Beweislast von Anfang an im Nachteil. Die Unterstützung von HateAid [in Fällen digitaler Gewalt] ist also besonders wichtig.  

Auch online sind Frauen und marginalisierte Gruppen häufig das Ziel von Hass und Hetze. Haben Sie in Ihrer Funktion als Geschäftsführerin schon mit digitaler Gewalt Erfahrungen machen müssen und wie sind Sie damit umgegangen?  

In meiner Funktion als Geschäftsführerin von Amnesty erhalte ich zwar Drohbriefe, trotzdem gibt es für Täter*innen weniger die Möglichkeit, an mich heranzutreten. Unser Generalsekretär, in dessen Namen beispielsweise die Postings erstellt werden, ist männlich, was mich zusätzlich schützt.  

Als Privatperson und engagierte Bürgerin hingegen habe ich schon sehr viel digitale Gewalt erlebt. Die Fortsetzung der analogen sexualisierten Gewalt, die ich erlebt habe, fand im Internet statt. Das war eine Strategie, um mich zu schwächen und mundtot zu machen. Ich bin allerdings trotzdem dagegen vorgegangen. Meine erste Reaktion war allerdings recht typisch: Rückzug. Ich habe mich zuerst verbarrikadiert, um mich physisch schützen zu können. Nachdem der Täter sich mir so analog nicht mehr nähern konnte, wählte er den digitalen Weg. Und das Internet schläft nie! Im Internet hast du keine Möglichkeit, die Tür abzuschließen. Selbst als privilegierte Person fand ich damals kein Mittel, mit der Situation umzugehen. Denn solange der Täter meinen Namen nicht nannte, konnte ich mich auch nicht zur Wehr setzen. Trotzdem wussten sowohl ich als auch meine Community, dass ich gemeint war. Mir waren somit die Hände gebunden. Als Einzelperson kannst du zudem nicht das Internet durchforsten. Erst nach einer ganzen Weile habe ich diese Widerstandsfähigkeit entwickelt und gesagt: „Ich lasse mich nicht vertreiben!“ Trotzdem hat sich mein Posting-Verhalten in den sozialen Medien von Grund auf verändert und ich bin sehr vorsichtig geworden.  

Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, der sehr wichtig ist: Alle relevanten Untersuchungen zeigen, dass Frauen, BIPoC, Muslima etc. doppelt und dreifach von digitaler sexualisierter Gewalt betroffen sind. Dementsprechend sind sie die vulnerabelsten Gruppen und es ist ein wichtiges Thema, das in den Vordergrund gerückt werden muss.  

Am 27. April haben Sie die Pressekonferenz moderiert, auf der Frau Renate Künast zusammen mit HateAid ihre Klage gegen Facebook öffentlich machte und eine Löschpflicht für illegale Inhalte forderte. Inwiefern käme dieses Grundsatzurteil auch Ihrer Arbeit bei Amnesty International zugute?  

Ich würde sagen, das Grundsatzurteil käme Amnesty nicht unmittelbar, aber mittelbar zugute. Amnesty engagiert sich unter der Überschrift „Menschen im digitalen Zeitalter“. Dabei konzentrieren wir uns zum Beispiel auf die Auswirkungen rassistisch geprägter KIs (künstlicher Intelligenzen). Wir arbeiten zudem viel im Bereich Überwachung, machen Studien zu der Thematik und beschäftigen uns außerdem mit Gesichtserkennung und dem Einsatz von Drohnen. Für alle genannten Bereiche ist das Grundsatzurteil wichtig, aber zudem außerdem dadurch, dass wir von allen Seiten Druck ausüben, um die Defizite des Menschenrechtsschutzes im Internet und im digitalen Zeitalter aufzudecken. Um unser Ziel – mehr Schutz im Netz – zu erreichen, ist es wichtig, Bündnisse mit anderen Menschenrechtsorganisationen zu schaffen.  

Wenn das Grundsatzurteil gegen Facebook durchgeht, wovon ich natürlich ausgehe, dann kommt uns das außerdem zugute, weil es der erste Kampf à la David gegen Goliath im europäischen Raum ist. Das ist wichtig. Deswegen auch an dieser Stelle meinen Glückwunsch an HateAid für den Mut, diesen Kampf anzutreten. Die Wirkung dieses Prozesses kann so groß sein, dass auch andere dem Beispiel folgen werden.  

Amnesty International tritt weltweit für den Schutz der Menschenrechte ein. Wie hat sich Ihre Arbeit durch die zunehmende Digitalisierung im Zuge der Corona-Pandemie verändert?   

Es ist meiner Meinung nach noch etwas früh, um die tatsächlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu sehen. Ich glaube allerdings, dass diese Auswirkungen gar nicht so groß sind. Ich fasse es mal zusammen: Die Pandemie hat verursacht, dass viele Menschen 10 – 12 Stunden am Tag am PC arbeiten und sehr viel digital sind. Sie hat aber auch dazu geführt, dass wir im Kontrast dazu in der Freizeit analoger waren. Ich kann beobachten, dass tatsächlich etwas weniger gepostet wird und ich persönlich auch sehr viel weniger darauf achte.  

Bezüglich des Themas der Teilhabe ist es allerdings so, dass, wenn Teilhabe für marginalisierte Gruppen vor der Pandemie bereits nur in geringem Maße möglich war, diese durch rein digital stattfindende Diskussionen und Veranstaltungen den Anschluss ganz verlieren.  

Zum jetzigen Zeitpunkt aber glaube ich nicht an einen direkten Zusammenhang, kann dies aber nicht belegen. Die Gruppe der Verschwörungsmystiker*innen hat durch die Pandemie allerdings deutlich Schubkraft bekommen. Und was definitiv im Zuge der Pandemie zugenommen hat und bereits belegt wurde, ist Gewalt gegen Frauen. Da digitale Gewalt gegen Frauen häufig der Anschlussprozess an analoge Gewalt ist, befürchte ich, dass diese spezifische Form der digitalen Gewalt während der Corona-Pandemie ebenfalls zugenommen hat.  

HateAid und Amnesty International verfolgen ein ähnliches Ziel: Menschen und ihre Rechte schützen, sowohl im digitalen als auch analogen Leben. Wie wichtig, denken Sie, wird es auch in Zukunft sein, die Arbeit zum Schutz der Menschenrechte aufrecht zu erhalten? Welche Weichen müssen gestellt werden, damit die Rechte von Betroffenen nachhaltig geschützt werden können?  

Als erstes ist es ganz wichtig, dass wir diesen Schutz in der Gegenwart herstellen. Momentan ist meine These: Es gibt fast keinen Schutz im Internet. Deshalb wird unsere Arbeit auch in der Zukunft enorm wichtig sein. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass das Thema des Schutzes vor digitaler Gewalt eines der Hauptthemen in der Menschenrechtsarbeit der nächsten Jahrzehnte sein wird. Die Digitalisierung transformiert uns alle global und dementsprechend werden wir dieses Thema ebenso wie das Thema der Klimagerechtigkeit in den Vordergrund rücken. Das wird in Zukunft auch neue Herausforderungen mit sich bringen, z. B. in Bezug auf die künstliche Intelligenz. Zur Entwicklung künstlicher Intelligenzen wurden bereits in den letzten Jahrzehnten massenhaft Daten gesammelt. Und diese Daten der letzten 20, 30, 40 Jahre beinhalten auch wieder Rassismen, die durch die Auswertung durch Maschinen wiederum reproduziert werden. Dieser Vorgang könnte beispielsweise eine der neuen digitalen Gefahren sein, die wir in der Zukunft bekämpfen müssen. Und dann müssten wir uns auch die Frage stellen, welche Menschenrechte für KIs gelten … Die Zukunft wird also sehr spannend!  

Bezüglich der Frage, welche Weichen für die Zukunft gestellt werden müssen: Wir brauchen jetzt eine Menge Grundsatzurteile! Und wir brauchen viele Personen, die klagen! Es gibt viele Punkte, in denen Fragen noch offen sind, deshalb braucht es einiges an Grundlagenarbeit. Denn diese existiert noch nicht in der Form, in der wir sie in Zukunft brauchen werden.  

Abschließend möchte ich noch etwas sagen: HateAid, bleib‘ dran! Es ist eine großartige Arbeit, die da gemacht wird und wahnsinnig wichtig! Und auch im Bereich der Betroffenenberatung braucht es weitere Initiativen, die die vorhandenen Strukturen stärken und sich mehr auf das Thema der digitalen Gewalt fokussieren. Denn noch gibt es zu wenige Spezialist*innen in diesem Bereich. Wir haben also alle in Zukunft noch einiges zu tun! 

Und ich habe einen Wunsch an HateAid: Das Thema anti-muslimischer Rassismus insbesondere gegen Frauen sollte ein Thema sein, das ihr euch mehr anseht. 

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