Deutschland und die Cancel Culture
Cancel Culture – haben wir jetzt oft gehört, aber was ist das eigentlich? De facto ist Cancel Culture ein (Kampf-) Begriff aus den USA. Hinter ihm steht die Annahme, dass bestimmte Personen des öffentlichen Lebens aus eben dieser Öffentlichkeit von einer gesellschaftlichen Gruppe „ausgelöscht“ würden. Die These ist, dass diese Personen so geächtet würden, dass sie in der öffentlichen Debatte keine Stimme mehr hätten – und mit ihnen ihre Kunst, ihr Schaffen und ihre Arbeit. In Deutschland füllte die Debatte zur Cancel Culture das Sommerloch 2020. In den Hauptrollen: Lisa Eckhart und Dieter Nuhr. Wochenlang wurde in einer aufgeregten Diskussion suggeriert, dass in Deutschland Kunst- und Meinungsfreiheit bedroht seien. Der Anlass waren Ausladungen der beiden Akteur*innen von Veranstaltungen. Berechtigter Vorwurf oder steile These? Wir schauen genauer hin.
Der Fall Dieter Nuhr
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen mit der Netzkampagne „Gemeinsam #fürdasWissen“. Hierfür haben bekannte Namen aus Wissenschaft, Forschung und Kulturbereich kurze Video-Statements abgegeben – darunter auch Dieter Nuhr. Darin sagt der Kabarettist, dass Wissenschaft nicht die Heilslösung sei, nicht alles wisse und die Meinung der Wissenschaftler*innen sich mit der Faktenlage ändere. Sein kurzes Statement sorgte für einen regelrechten Shitstorm. Nur ging es bei diesem nicht um die Inhalte aus dem Video, sondern vielmehr um die Person Dieter Nuhr. Der Kabarettist polarisiert regelmäßig damit, dass er Wissenschaftler*innen ignoriert oder sogar ins Lächerliche zieht. Sei es beim Klimawandel oder in der Pandemie: Dieter Nuhr liefert regelmäßig Inhalte für Wissenschaftsskeptiker*innen. Und genau hier haben wir den Auslöser. Es geht darum, dass ausgerechnet ein Mann, der Wissenschaft mitunter ignoriert und ins Lächerliche zieht, als Aushängeschild für die Wissenschaft herhalten soll. Die DFG hat das Video nach dem Aufruhr zunächst von der Plattform gelöscht, um es nach „Zensur!“-Rufen wieder online zu stellen.
Zensur? Noch so ein häufig benutzter Kampfbegriff, der nicht passt. Denn: Zensieren tun (nicht demokratische) Staaten. Wenn also die DFG wegen öffentlicher Kritik ein Video entfernt, ist dies keine Zensur, sondern eine bewusste Entscheidung. Dabei ist verwunderlich, dass behauptet wird, Dieter Nuhr würde aus der Öffentlichkeit gelöscht, nur weil ein Video mit ihm kurz von einer Homepage verschwindet. Denn Tatsache ist: Der Kabarettist ist einer der erfolgreichsten Männer seiner Branche, geht regelmäßig auf Tour und hat auch weiterhin seine Sendung in der ARD. Mehr Öffentlichkeit geht kaum.
Der Aufreger Lisa Eckhart, der keiner war
Um es nochmal genauer einzuordnen: Dieter Nuhr spielte eher die große, männliche Nebenrolle in der Cancel-Culture-Debatte in Deutschland. Die Hauptrolle nahm Lisa Eckhart ein. Erst mit ihr wurde die Debatte zu jener, die sie am Ende war. Mitte September sollte Eckhart beim Debütant*innensalon des Harbour Front Literaturfestivals im Nochtspeicher in Hamburg auftreten. Der Veranstaltungsort teilte dem Veranstalter jedoch per Mail mit, dass mit „Personen- und Sachschaden zu rechnen sei“ – und zwar wegen des Auftritts der umstrittenen Bühnendarstellerin. Ihr wurde infolgedessen abgesagt. Festivalleiter Nikolaus Hansen berichtete der Presse von konkreten Drohungen, gar von Sprengungen war die Rede. Er ging so weit zu sagen, wir hätten inzwischen Weimarer Verhältnisse. Der schwarze Block in Hamburg sei nun einmal sehr gefährlich und für seine Gewaltbereitschaft bekannt. Allerdings: Es hatte keine Drohungen gegeben. Nur Warnungen aus der besorgten Nachbarschaft. Dies teilte der Nochtspeicher in einer Pressemitteilung mit. Doch der Diskurs war auf Basis der verschärften Darstellung vor allem in der rechtskonservativen Presse bereits im Gange: Es hieß, „die Linken“ tolerierten keine Kunst, die sie kritisch sehen, und betrieben eine Cancel Culture.
Das Wirken Lisa Eckharts
Warum sorgt Lisa Eckhart überhaupt für so große Diskussionen? Immer wieder erregt sie Aufsehen durch ihre „Witze“, die sich gegen BIPoC, Juden*Jüdinnen, Homosexuelle und trans* Personen richten. Zwischendurch bedient sie sich auch an Sexismen. Teile ihres Programms gehen auf Kosten von Minderheiten und mehrfach Diskriminierten. Als weiße Österreicherin wolle sie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Doch warum regen sich dann nicht jene Menschen auf, die sie entlarven möchte, sondern die erwähnten Minderheiten?
Übrigens: Lisa Eckhart durfte nun doch beim Harbour Front Literaturfestival auftreten und hatte pünktlich zu ihrer Buchveröffentlichung wohl so viel Presse wie nie zuvor. Auch hier wird deutlich: Es hat zu keinem Zeitpunkt die Gefahr bestanden, dass die Arbeit und das Wirken dieser Person des öffentlichen Lebens gefährdet war. Eher im Gegenteil.
Wie die Cancel-Culture-Debatte groß wurde
Sowohl bei Dieter Nuhr als auch bei Lisa Eckhart gab es also eine Debatte, in der es darum ging, dass demokratische Grundwerte bedroht seien – aber dann eigentlich doch nicht. Im Grunde wurden schlicht ein Video gelöscht und eine Frau ausgeladen, ohne konkrete Drohungen. Wie also ist es dann zu dieser lauten Debatte gekommen und wer hat sie geführt?
Die Debatte wurde angeführt von neoliberalen, konservativen oder rechten Akteur*innen aus Presse und Politik. Besonders aktiv waren dabei WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt sowie WELT-Kolumnist Rainer Meyer aka Don Alphonso, die es geschafft haben, einen Diskurs zu schaffen, der zum Teil unfundiert war – wie schon bei „Panoramagate“ und Natascha Strobl:
Einmal mehr haben sie gezeigt, welchen Einfluss sie auf die Diskussionskultur in Deutschland haben. Dieses Mal als vermeintliche Wächter der Meinungs- und Kunstfreiheit. Denn Minderheiten öffentlich in Sketchen zu diskriminieren und antisemitische Witze zu machen, war ja bisher auch „okay“.
J. K. Rowling und die Cancel Culture
Die Cancel-Culture-Debatte in Deutschland kam nicht aus dem Nichts. Etwa einen Monat zuvor gab es eine ähnliche Debatte in England. Angeführt durch die Schöpferin von Harry Potter, J. K. Rowling, die sich wiederholt diskriminierend über trans* Personen geäußert hatte. Die Schafferin einer der erfolgreichsten und meistgelesenen Kinderbuchreihen behauptete, sie könne keinen öffentlichen Raum mehr einnehmen, denn diesen hätten ihr Nutzer*innen sämtlicher Social-Media-Kanäle streitig gemacht. Dies beklagt sie in einem offenen Brief auf der Seite von Harper’s Bazaar gemeinsam mit anderen berühmten Autor*innen wie Margaret Atwood, Noam Chomsky oder Salman Rushdie. Dabei werden all diese Personen regelmäßig in Sendungen eingeladen und starten neue auflagenstarke Buchprojekte. Von einer Löschung aus der Öffentlichkeit kann überhaupt keine Rede sein. Dennoch wurde genau darüber diskutiert.
Wenn man die drei Fälle Nuhr, Eckhart und Rowling miteinander vergleicht, zeigt sich: Die Debatte rund um Cancel Culture oder die schrumpfende Meinungsfreiheit wird von Personen angetrieben, die weiter diskriminierende Sprache benutzen möchten. Sie möchten das N-Wort sagen, Witze über Juden*Jüdinnen machen und sich schwarz anmalen – denn das war ja sonst auch kein Problem. Das kann ihnen niemand verbieten, aber damit, dass Menschen diese Art von Rethorik ablehnen und nicht mehr hören wollen, müssen sie sich auseinandersetzen.
Eine weitere Absage und keine Cancel Culture
Dass es genau darum geht, zeigt das Beispiel Feine Sahne Fischfilet: Im Rahmen der Konzertreihe zdf@bauhaus sollte die linke Punkrock-Band im historischen Bauhaus in Dessau auftreten. Der Veranstaltungsort hat das Konzert aber untersagt, sodass das ZDF der Band mit Bedauern absagen musste. Grund für das Nein vom Bauhaus waren rechte Gruppen, die im Netz gegen die Veranstaltung mobilisierten. Sie drohten konkret und sichtbar damit, ein Konzert zu stören, das infolgedessen abgesagt wurde. Es gab in Deutschland daraufhin eine Debatte darüber. Das Handeln des Bauhauses wurde sehr kritisiert. Einer der größten Kritikpunkte war die Tatsache, dass ausgerechnet ein Ort, der schon mehrfach rechtem Terror ausgesetzt war, nun vor rechten Strömungen zurückweicht. Die Pressesprecherin des Bauhauses wurde nach diesem Skandal ihres Postens enthoben. Feine Sahne Fischfilet bekamen viel Solidarität und erhielten dann eine Zusage vom Brauhaus in Dessau, wo sie ihr Konzert schließlich spielten. Und was geschah bei dieser Debatte? NIEMAND sprach von Cancel Culture.
Denn warum auch sollte man in solchen Fällen von einer „Auslöschung aus der Öffentlichkeit“ sprechen? Immerhin bekamen alle Beteiligten mehr Aufmerksamkeit denn je: Feine Sahne Fischfilet hat in Dessau ein Konzert gegeben, das im Nu ausverkauft war und spielt immer noch in ausverkauften Hallen, wenn wir nicht gerade eine Pandemie haben. Lisa Eckharts Buch hat viel Aufmerksamkeit erhalten, die wohl ohne die Absage nicht annähernd so hoch wäre. Und Dieter Nuhr hat noch immer seinen Stammplatz im Ersten und wird irgendwann wieder durch Deutschland touren und vor einem großen Publikum seine Witze erzählen.
Ein Phantom? Jan Böhmermann und die Cancel Culture
Am Donnerstag, den 10. September, tweetete der Moderator und Satiriker Jan Böhmermann, dass er der FAS ein langes Interview gegeben habe, in dem es auch um Cancel Culture gehen sollte. Das Interview sollte am 6. September veröffentlicht werden. Jürgen Kaube, einer der vier Herausgeber*innen der FAZ, hat ohne Begründung veranlasst, dass dieses Interview doch nicht veröffentlicht werden soll.
Daraufhin hat Böhmermann das komplette Interview in einem sehr langen Thread (63 Tweets!) auf Twitter veröffentlicht:
Darin sagt er zur Cancel Culture: „Oder wenn Du als unfehlbarer Querdenker-Kabarettist die geniale Idee hast, deinem senilen Publikum mit antisemitischem Geraune oder regressivem Volkswitz den allertraurigsten Applaus aus den toten Händen zu saugen und das dann jemand im Internet bemerkt und Dir laut hörbar widerspricht. Wenn ich die Informationshefte der Bundeszentrale für politische Bildung richtig verstanden habe, geht es bei Demokratie um den Wettstreit der Ideen. Und wenn Deine Idee schlecht ist, dann schlucks runter und denk Dir was Schlaueres aus und fantasier nicht irgendwelche Cancel Cultures herbei oder sehne Dich gar gleich nach neuen Autoritäten, die Dir Deine kleine Sperrholz-Wahrheit vor dem bösen Wolf beschützen. Horizont erweitern geht auch nach innen.“
Es gab keinen Shitstorm oder eine laute Kritik, die der Entscheidung des Herausgebers der FAS vorausgingen, das Interview nicht zu veröffentlichen. Was auch immer die Gründe waren, Böhmermann selbst bezeichnet Cancel Culture als Phantom – als nicht existent. Und: Er konnte sein Interview selbst mit großer Reichweite veröffentlichen
Fazit
Mit Blick auf die öffentlichkeitswirksamen Debatten rund um Eckhart, Nuhr & Co. scheint eines klar: Gecancelt wurde hier niemand.