Hass gegen Pflegekräfte: Niemand muss es aushalten, im Netz beleidigt und bedroht zu werden!
Ricardo Lange ist Intensivpfleger in Berlin und äußert sich seit Beginn der Corona-Pandemie öffentlich zu Missständen im Gesundheitswesen. Seinen ersten, viralen Post bei Facebook verfasste er am 25. März 2020. Hintergrund war die Ausnahmesituation im Krankenhaus: Auf seiner Station waren Dutzende Masken gestohlen worden, es wurde Desinfektionsmittel gegen Wasser und Toilettenpapier gegen Gemüse ausgetauscht. Die Nerven lagen blank. Und an diesem Tag reichte es ihm.
Mit einem emotionalen Post machte er sich nach Feierabend Luft und schrieb bei Facebook über das, was nicht nur ihm und seinen Kolleg*innen in Berlin, sondern Pflegekräften in ganz Deutschland damals passierte. Über Nacht wurde der Post zigtausendfach geteilt und gelikt. Die Presse kam auf ihn zu. Und Ricardo wurde zu einem der bekanntesten Pfleger*innen in Deutschland. Seither thematisiert er immer wieder Kritisches auf seinem Social-Media-Account, geht mit der Politik ins Gespräch und ruft die Gesellschaft zu mehr Solidarität auf.
Ricardo wehrt sich gegen Hassnachrichten
Inzwischen hat er auf Twitter über 55.000 Follower*innen, mehrere Tausend schauen regelmäßig seine Live-Videos oder liken seine Posts. Anfang 2022 veröffentlichte er ein Buch, in dem er die vielen schweren Momente inmitten der Pandemie ein Stück weit verarbeitet. Als laute Stimme auf Social Media muss er sich aber auch immer wieder mit Hasskommentaren, Bedrohungen und Beleidigungen auseinandersetzen, die ihn per Privatnachricht erreichen oder öffentlich als Kommentar für alle sichtbar gepostet werden.
Uns hat Ricardo Lange mit einem Erfahrungsbericht erzählt, was er und seine Kolleg*innen in der Branche zurzeit erleben und warum die Hasswellen bei Social Media endlich aufhören müssen:
Ich bin frustriert. Ich bin wirklich frustriert. Erstens, weil sich nichts ändert. Und zweitens: Ich musste seit meinem ersten Post 2020 lernen, dass wir mittlerweile in einer gewissen Erwartungsgesellschaft leben, der einfach keine*r gerecht werden kann. Jede*r hat nur Erwartungen an einen. Und wenn man diese nicht erfüllt, ist man gleich blöd. Es gibt zum Beispiel Pflegekräfte, die mir schreiben: „Warum sprichst du nur über die Intensivpflege? Warum nicht auch über die Altenpflege?“ Dann muss ich mich erklären. Dass ich das gerne machen würde, aber es aus meiner Sicht eben nicht so seriös ist, über Fachbereiche zu sprechen, von denen ich keine Ahnung habe. Ich arbeite da ja nicht. Ich kann deren Probleme nicht so erfassen wie meine eigenen.
Beleidigungen im Netz sind an der Tagesordnung
Es gibt viele Wege, über die mich Menschen erreichen können: Kommentare bei Twitter, Facebook oder Instagram. Oder Privatnachrichten auf diesen Kanälen. Wenn ich mich zu kritischen Themen äußere oder manchmal auch einfach nicht die Inhalte teile, von denen manche erwarten, dass ich sie teile, werde ich beschimpft. „Du dreckiges Arschloch!‘, „Idiot!“, „Verrecken sollst du!“. Auf solche Nachrichten versuche ich immer, respektvoll zu antworten. „Danke für den Kommentar, das sehe ich nicht so.“ „Ich wünsche Ihnen trotzdem schöne Weihnachten!“. Aber trotzdem geht es immer weiter.
Ich weiß, dass ich nicht davon ausgehen kann, dass jede*r mich sympathisch findet, wenn ich mich in der Öffentlichkeit äußere. Alle haben ihre eigene Meinung und das ist auch okay so. Und bei manchen Themen weiß es vielleicht auch jemand anderes besser. Dann lerne ich auch gerne dazu. Nehme eine neue Sichtweise ein. Aber was ich nicht verstehe, ist der ganze Hass, der da auf mich und andere zurollt. Von anderen Pflegekräften, wenn ich zu aktuellen Fragestellungen meine Meinung sage. Oder von Angehörigen, wenn ich mich zum Beispiel wie zuletzt zur Impfpflicht äußere.
Wenn Pfleger*innen Polizeischutz brauchen
Weil sie sich öffentlich an Impfkampagnen beteiligen und dafür massiv angegriffen werden. Nicht nur im Internet, sondern auch analog. Und während ich diese Situation noch verarbeite, flattert eine Nachricht in mein Postfach, bei der mir die Kinnlade herunterklappt: „Pflegekräfte müssen sowas aushalten, sie müssen mit Beleidigungen und Bedrohungen umgehen!“ Was? Das kann doch nicht sein! Wo kommen wir denn hin, wenn wir so denken?
Es gibt viele Menschen, die mir Privatnachrichten schicken. Ich habe mich zu Beginn der Pandemie emotional zu einem Thema geäußert. Das war zu der Zeit, als es viele Tote gab und wir sie als Pfleger*innen in schwarze Plastiktüten packen mussten. Das waren unwirkliche Momente für mich. Und sehr emotional. Ich empfand es als abwertendes Sterben. Und äußerte mich dazu über meinen Twitter-Account, sprach das Thema auch öffentlich bei einer Bundespressekonferenz an, zu der ich geladen war. Daraufhin wurde ich direkt wieder angegriffen: „Du hast den falschen Job!“, „Du bist ein Idiot!“, „Dich müsste man sofort entlassen!“. Mir wurde damals meine Empathie, mein Einfühlungsvermögen abgesprochen. Mir wurde gesagt, dass ich dann wohl den falschen Beruf gewählt habe.
Unsicher, was die beste Reaktion ist
Da kommt man einfach an einen Punkt, an dem man denkt: Das macht doch einfach keinen Sinn! Dann kämpft doch ihr für bessere Arbeitsbedingungen und ich höre damit auf. Viele Pflegekräfte setzen sich aktiv und laut für wichtige Themen in der Branche ein. Sie gehen auf die Straße, schreiben Beiträge oder reden wie ich mit der Politik. Aber das machen wir ja nicht für uns selbst. Das machen wir für die Patient*innen und ihre Angehörigen. Deshalb frustriert es mich noch mehr, wenn sich da plötzlich ein Shitstorm entwickelt. Egal, was ich mache. Das ist einfach paradox!
Im normalen Leben würde ich einfach sagen: „Hau ab“ oder „Halt die Klappe!“ Es ist ja menschlich, dass man sich wehrt, wenn man ständig angegriffen wird. Aber im Netz bist du einfach eingeschränkt. Du hast mit einem großen Account auch eine gewisse Vorbildfunktion. Manchmal weiß ich überhaupt nicht, wie ich auf Angriffe reagieren soll. Und hole mir dann Hilfe bei meinem Anwalt oder HateAid.
Grenzen ziehen ist wichtig
Persönlich komme ich am besten damit klar, wenn ich solche Angriffe ignoriere. Ich sage mir immer, dass die Menschen, die mich da beleidigen, eben Leute sind, die nicht den Arsch in der Hose haben, mit ihrem Klarnamen und einem echten Bild online ihre Meinung zu sagen. Sie nutzen irgendwelche Pseudonyme oder Katzenbilder. Ich versuche immer, mich zu fragen: Welche Rolle spielt dieser Mensch, der mich da gerade beleidigt, in meinem Leben? Und oftmals ist die Antwort darauf: keine. Und dann ist es mir auch egal. Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn meine Mutter mich beleidigt oder meine Schwester.
Aber irgendwelche Fremden aus dem Netz, die ich nicht kenne? Da muss ich einfach Grenzen ziehen. Man muss nicht alle Kommentare lesen, wenn man einen Beitrag postet. Manchmal frustriert das nur. Denn wenn von 100 Leuten 90 unangemessen kommentieren, dann konzentriert man sich häufig nur darauf. Obwohl die Hater*innen doch eigentlich in der Minderheit sind! Deshalb versuche ich die Perspektive zu wechseln und einfach auf das Gute zu schauen, das die Leute mir schreiben.
Ich finde, dass es einfach selbstverständlich sein sollte, dass auch das Internet kein rechtsfreier Raum ist. Jeder sollte sich bewusst machen, dass hinter jedem Beitrag, jedem Profil ein echter Mensch mit echten Gefühlen steckt. In unserem Fall Pflegekräfte, die drei Schichten arbeiten, in der Pandemie alles geben und abends solche Nachrichten lesen müssen. Alle, die Hasskommentare verfassen, sollten sich bewusst machen, dass es sein kann, dass die Person es sich zu Herzen nimmt, an die es gerichtet ist. Dass es auch Schaden anrichten kann.
Weiterhin laut in der Öffentlichkeit
Deshalb muss auch die Politik den Druck auf die Plattformen erhöhen. Diese müssen strenger überwacht werden. Es kann nicht sein, dass ich Beleidigungen melde und diese dann aber aus Sicht der Plattform-Betreiber nicht gegen die Richtlinien verstoßen. Da läuft etwas falsch. Accounts können nicht inkognito unterwegs sein*, sodass ihre Hassnachrichten und -kommentare nicht zurückverfolgt werden können. Und deshalb werde ich auch weiterhin laut sein und mich äußern. Damit sich etwas ändert.