Telegram: Zwischen Meinungsfreiheit und Extremismus
Als Pavel Durov 2013 den Messenger Telegram auf den Markt brachte, war seine Vision klar: eine unabhängige Kommunikationsplattform, frei von staatlicher Kontrolle, ein sicherer Ort für Oppositionelle, Aktivist*innen, Journalist*innen.
Heute, über ein Jahrzehnt später, ist von dieser Utopie wenig übrig. Stattdessen ist Telegram zu einem der dunkelsten digitalen Rückzugsräume für rechtsextreme Gruppen, Verschwörungsideolog*innen und Täter*innen digitaler Gewalt geworden – weitgehend unbehelligt von staatlichen Eingriffen oder plattformeigener Moderation.
Zufluchtsort Telegram
Telegram unterscheidet sich grundlegend von klassischen Messengerdiensten. Neben privaten Chats können Nutzer*innen öffentliche Gruppen und sogenannte „Kanäle“ erstellen, mit teils hunderttausenden Abonnent*innen.
Diese Inhalte sind offen einsehbar, häufig unmoderiert und kaum reguliert. Während Plattformen wie Facebook, X (ehemals Twitter) oder TikTok in den letzten Jahren ihre Community-Richtlinien verschärft und Inhalte gelöscht haben, ist Telegram für viele zum Rückzugsort geworden, insbesondere für Akteur*innen, die auf anderen Plattformen gesperrt wurden.
Ein prominentes Beispiel: Martin Sellner, eine zentrale Figur der Identitären Bewegung, wurde auf fast allen großen Plattformen dauerhaft verbannt, aufgrund von Hetze, menschenverachtenden Inhalten und Nähe zu rechtsextremer Gewalt. Auf Telegram jedoch erreicht er nach wie vor ein Publikum von über 100.000 Follower*innen – ungestört, ungefiltert, unmoderiert.
Per Algorithmus ins Extrem
Besonders alarmierend sind die Erkenntnisse aus einer neuen Studie des Southern Poverty Law Center (SPLC) mit dem Titel „Telegram’s Toxic Recommendations“. Forscher*innen fanden heraus, dass Nutzer*innen auf Telegram durch die Funktion „Ähnliche Kanäle“ selbst bei völlig unpolitischen Interessen – etwa Promis oder Technik – zu extremistischen Inhalten weitergeleitet werden.

Der Algorithmus führt dabei automatisiert in sogenannte „Rabbit Holes“: Wer mit harmlosen Inhalten beginnt, landet oft nur wenige Klicks später in Kanälen, die White Supremacy, Antisemitismus oder QAnon-Verschwörungsideologien propagieren.
Die Studie zeigt: Telegram ist längst kein neutraler Raum mehr – es ist ein Katalysator für Radikalisierung. Auch das Online-Magazin Machine Against the Rage zeigt in ihrer Spätjahr-Ausgabe 2025, welch wertvolle Plattform Telegram für rechtsalternativen Online-Aktivismus ist.
Brutstätte des digitalen Rechtsterrorismus
Auch deutsche Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Organisationen schlagen Alarm. Gruppen wie „Terrorgram“, in denen bereits 12- oder 13-Jährige auf rechtsterroristische Propaganda stoßen, sind keine Einzelfälle.
Das Berliner Recherchezentrum CeMAS dokumentiert regelmäßig, wie junge Nutzer*innen gezielt durch Meme-Kultur, Gamer-Ästhetik und Verschwörungsnarrative in extremistische Szenen hineingezogen werden.
Die Plattform wird zudem gezielt genutzt, um reale Gewalt vorzubereiten. Im Umfeld der Corona-Proteste wurde Telegram zur digitalen Infrastruktur für sogenannte „Querdenker“-Gruppen, in denen Verschwörungsideolog*innen offen Mordfantasien gegen Politiker*innen, Gewaltaufrufe und antisemitische Hetze teilten.
Wo endet die Verantwortung?
Der amerikanische Politikwissenschaftler William Callison zog in seiner Analyse Parallelen zwischen deutschen Corona-Leugnenden und Trump-Anhänger*innen, die 2021 das US-Kapitol stürmten. Die gemeinsame Schnittstelle? Telegram. Zu Pandemie-Zeiten beobachteten auch wir dort einen großen Anstieg an Hasskriminalität.

Im August 2024 geriet Telegrams Gründer Pavel Durov erstmals juristisch unter Druck: Bei einem Zwischenstopp in Frankreich wurde er von der Polizei festgenommen. Der Vorwurf: Telegram habe systematisch kriminelle Inhalte wie Kinderpornografie, Drogenhandel oder Betrug zugelassen – und trotz mehrfacher Warnungen europäischer Behörden kaum kooperiert.
Durov wurde kurze Zeit später unter Auflagen freigelassen. Der Fall zeigt jedoch: Der politische Druck auf Plattformen wie Telegram wächst – und damit die Frage, wie weit sich eine Plattform der Verantwortung entziehen kann, wenn sie systematisch zum Schaden anderer missbraucht wird.
Und die Betroffenen?
Für Betroffene von digitaler Gewalt, Desinformation oder Bedrohung bedeutet Telegram vor allem eines: Ohnmacht. Während auf anderen Plattformen Moderationssysteme, Meldeverfahren und Blockierfunktionen etabliert sind, sind viele Nutzer*innen auf Telegram vollkommen schutzlos.
Besonders Frauen, queere Personen und Menschen mit Migrationsgeschichte werden systematisch zur Zielscheibe – und finden auf Telegram kaum Möglichkeiten, sich zu wehren.
Hinzu kommt: Viele Betroffene wissen gar nicht, wie öffentlich die Inhalte auf Telegram-Kanälen tatsächlich sind. Wer einmal Opfer wird, sieht sich oft einer wachsenden Community gegenüber, die sich durch digitale Hetze gegenseitig bestärkt – mit realen Konsequenzen für die psychische und körperliche Unversehrtheit.
„Es landen nur wenige Telegram-Fälle bei uns. Denn, so bitter es ist, die meisten Betroffenen schätzen den Moderationswillen der Plattform schon realistisch ein”, sagt HateAid-Betroffenenberater Rafael. „Ich empfehle dennoch allen, die digitale Gewalt auf Telegram erleben, sich an uns zu wenden. Wir können versuchen, eine Lösung zu finden. Immerhin gibt es Meldemöglichkeiten – auch wenn wir nie wissen, ob und wann wir eine Antwort erhalten.”

Rechtliche Grauzone Telegram
Telegram betont regelmäßig, es habe „in seiner Geschichte noch nie Nutzerdaten an Behörden herausgegeben“. Dabei muss es sich trotz Hauptsitz in Dubai an den Digital Services Act halten, da es seine Dienste in Europa anbietet.
Erst seit Anfang 2025 gibt es in Ausnahmefällen – etwa bei akuter Gefahr für Leib und Leben – eine begrenzte Kooperation mit deutschen Behörden.
Doch insgesamt bleibt Telegram ein rechtsfreier Raum. Während die App sich selbst als Bastion der Meinungsfreiheit inszeniert, kritisieren Expert*innen sie längst als „digitale Dunkelkammer“, in der Desinformation, Hetze und Extremismus gedeihen.

Titelbild: Shutterstock / TheVisualYouNeed
