Richtung Gerechtigkeit: Intersektionalität im Netz
Mehrere Schwarze Frauen bewerben sich bei einem Automobilkonzern. Sowohl für die Stellen in der Fabrik, in der vornehmlich Schwarze Menschen arbeiten, als auch für die Sekretariatsstellen, die ausschließlich mit Frauen besetzt werden, erhalten sie alle Absagen. Daraufhin verklagen sie den Konzern wegen Diskriminierung. Der Konzern bestreitet die Anschuldigung. Auch gesetzlich, so das Gericht, liege kein Sexismus oder Rassismus vor: Das Unternehmen diskriminiere nicht, es werden ja Schwarze Männer und weiße Frauen angestellt …
Was die Klägerinnen hier 1976 in den USA erlebten, war intersektionale Diskriminierung. Ihre spezifische Diskriminierungserfahrung als Schwarze Frauen fing die Definitionen von Sexismus und Rassismus im Antidiskriminierungsgesetz nicht auf. Auf Grundlage dieses Prozesses entwickelte die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw den Begriff „Intersektionalität”. Heute ist Intersektionalität eines der bedeutendsten Konzepte in der Arbeit für soziale Gerechtigkeit. Doch was genau bedeutet dieser Begriff und warum ist er so wichtig?
Von Straßenkreuzungen und Identitäten: Intersektionalität
Der Begriff Intersektionalität stammt vom englischen Wort „intersection”, also Straßenkreuzung oder Überschneidung. Er verweist darauf, dass sich in der Lebensrealität von Menschen mehrere Identitätsaspekte kreuzen und überlagern. Der Begriff ermöglicht es Personen, ihre unterschiedlichen Identitätsmerkmale und damit einhergehende Erfahrungen zu benennen und sichtbar zu machen. Das wiederum empowert und schafft Zusammenhalt. Intersektionalität ist also nicht nur ein wissenschaftlicher Begriff, sondern auch eine alltägliche Möglichkeit, Erfahrungen zu erzählen, eine Community zu finden oder aktivistisch zu handeln.
Die intersektionale Perspektive auf Diskriminierung erkennt, dass manche Menschen gleichzeitig von mehreren gesellschaftlichen Strukturen, wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus, betroffen sind. Wer intersektional diskriminiert wird, erlebt, wie mehrere Unterdrückungsformen zusammenwirken. Diese Überlappungen schaffen ganz spezifische Erfahrungen:
Eine Schwarze Frau erlebt Sexismus und Rassismus. Sie erlebt dies als Schwarze Person und als Frau. Ihre Erfahrungen können sich von denen Schwarzer Männer oder weißer Frauen aber extrem unterscheiden. Diese Mehrfachdiskriminierung ist eine andere, spezifische Form. Ein eindimensionaler Blick auf Sexismus oder Rassismus reicht nicht aus, um sie zu erfassen.
Bei der intersektionalen Arbeit geht es nicht darum, Erfahrungen gegeneinander abzuwiegen. Es ist natürlich wichtig, Rassismus oder Sexismus zu benennen und ihnen entgegenzutreten. Dabei sollten wir aber intersektionale Erfahrungen mitdenken und sichtbar machen.
Auch im digitalen Raum ist die Arbeit gegen intersektionale Diskriminierung essenziell, um das Netz sicher für alle zu machen. Bijan Kaffenberger erzählt im Interview, was er als Mensch mit Behinderung und Politiker mit Migrationshintergrund im Internet erlebt.
Mittlerweile binden viele Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder Aktivist*innen Merkmale oder Zuschreibungen wie sexuelle Orientierung, Religion, Behinderung oder Krankheit in intersektionale Betrachtungsweisen ein. Doch der Ursprung findet sich im Schwarzen Feminismus und den Aktivist*innen, die vor allem Geschlecht, race und Klasse betrachteten.
Intersektionalität: Eine moderne Erfindung?
Wenn über Intersektionalität gesprochen wird, dann eigentlich auch immer über Kimberlé Crenshaw. Denn sie war es, die 1989 mit ihrem Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex” eine tiefgehende Kritik am Antidiskriminierungsrecht in den USA durchführte und dabei den Begriff „Intersektionalität” prägte. Damit schuf sie ein theoretisches Konzept für Wissenschaftler*innen, aber auch ein begriffliches Instrument, mit dem Aktivist*innen ihre Position in der Gesellschaft sichtbar machen können.
Doch schon immer arbeiteten viele Schwarze Feminist*innen intersektional. So hielt die Menschenrechtlerin Sojourner Truth bereits 1851 auf einer Frauenrechtskonvention in Ohio die prägende Rede „And ain’t I a woman?!” („Bin ich denn keine Frau?!”). In ihr machte sie auf ihre gesellschaftliche Position als Schwarze Frau und ihre spezifische Unterdrückung aufmerksam. Oder Fasia Jahnsen, die innerhalb der Friedensbewegung in Deutschland in den 1960er Jahren als Schwarze Frau politische Lieder gegen Rassismus und für Frieden sang.
Intersektionale Perspektiven auf Ungerechtigkeit reichen also weit in die Geschichte zurück. Doch erst die Einführung des Begriffs verstärkte diese Perspektive in Forschung, Politik oder im Rechtssystem.
Mit Intersektionalität gegen Diskriminierung
Intersektionalität ist mittlerweile weltweit ein Begriff, der sowohl in der Wissenschaft als auch im Aktivismus verankert ist. Vor allem in der feministischen Bewegung wird das Konzept immer wichtiger, um gegen intersektionale Diskriminierungen und damit für feministische Ziele, wie Gerechtigkeit für alle Menschen, einzustehen.
Der intersektionale Feminismus bricht mit rassistischen und diskriminierenden Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Aber auch innerhalb der Bewegung selbst. Es geht vor allem darum, die Perspektiven auf politische Themen, auf Gerechtigkeit und Gleichstellung zu erweitern. Damit bringen BIPoC (aus dem Englischen: Black, Indigenous, People of Color), Menschen aus der LGBTQIA+ Community, von Ableismus Betroffene und andere marginalisierte Menschen ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und Standpunkte in Debatten und Politik ein.
Auch politisch hat sich in Deutschland bereits etwas geändert. Der Begriff Intersektionalität taucht häufiger in politischen Agenden und Zielsetzungen auf. So hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Prüfung der rechtlichen Situation und Handlungsoptionen mit Mehrfachdiskriminierung veröffentlicht.
Exkurs: Intersektionale Diskriminierung in der Debatte
Doch es gibt auch Kritiker*innen des intersektionalen Blicks auf Diskriminierung. Manche sagen, dass der Begriff mittlerweile zu weit von der ursprünglichen Definition von Schwarzen Feminist*innen entfernt sei. Diese Debatten sind wichtig, denn Konzepte sollten nicht einfach angeeignet werden. Wenn du Intersektionalität thematisierst, solltest du die Arbeit Schwarzer Feminist*innen einbeziehen.
Andere kritisieren, dass Intersektionalität keine empirische Grundlage aufweise. Das ist nur insofern wahr, als dass viele Studien nicht die Erfahrung intersektionaler Identitäten einbeziehen. Wenn dies häufiger geschehe, gäbe es mehr Zahlen zu intersektionaler Diskriminierung.
Auch innerhalb der feministischen Bewegung gibt es Kritik: Intersektionalität würde von anti-sexistischer Arbeit ablenken. Intersektionalen Feminist*innen geht es aber nicht darum, Erfahrungen von Sexismus zu verkennen, sondern gegen jede Form von Sexismus vorzugehen, also Perspektiven zu erweitern. Dazu gehört auch, Diskriminierungsformen, die sich mit Sexismus überlappen, aufzuzeigen. Intersektionale Feminist*innen wollen eine gerechte Gesellschaft für alle. So sollte die feministische Arbeit immer dem Prinzip folgen: „Nobody’s free until everbody’s free” („Niemand ist frei, bis alle frei sind”, Fannie Lou Hamer).
Kreuzungen im Netz: Intersektionalität und Internet
Ein gerechtes und sicheres Internet erreichen wir nur durch die Einbeziehung intersektionaler Perspektiven. Auch im Netz spiegeln sich soziale Ungleichheiten, die die intersektionale Arbeit aufheben kann. Denn das Internet kann ein Ort der Selbsthilfe und des Community-Zusammenhalts sein. Eine Studie von LesMigras zeigt, dass sich viele Menschen, die Diskriminierung erfahren, in Internetforen austauschen.
Aktivist*innen nutzen vermehrt den digitalen Raum, um über intersektionale Diskriminierung aufzuklären und zu empowern. Dies zeigt sich zum Beispiel in der antirassistischen Arbeit im Netz.
Emilia Roig, Politologin und Aktivistin
Das Ziel von intersektionalen Perspektiven, Menschen zu empowern und Communitys zu schaffen, beschreibt Emilia auch in unserem Podcast über Hassreden, Folge 6.
Im Internet schreiben aber nicht nur Menschen soziale Rollen fest oder brechen diese auf: Auch die Algorithmen, digitale Plattformen und Technologien selbst spiegeln gesellschaftliche Verhältnisse wider. Da es Menschen sind, die diese programmieren oder erstellen, beinhalten beispielsweise Algorithmen häufig einen Coded Bias, durch den Menschen Diskriminierung erfahren. Aber auch künstliche Intelligenzen (KI) reagieren nicht neutral auf bestimmte Menschen. Das liegt unter anderem daran, dass beispielsweise viel weniger Frauen und BIPoC in der Branche arbeiten und diese Perspektive bei der Programmierung fehlt. Eine KI kann somit Vorurteile und Diskriminierung verstärken.
Setze dich gegen intersektionale Diskriminierung ein!
Du kannst dabei helfen, das Netz zu einem sicheren Ort für alle zu machen, indem du intersektionale Erfahrungen benennst, anerkennst und auf sie aufmerksam machst.
Wenn du intersektionale Diskriminierung im Netz erlebst, kannst du dich immer an unsere Beratung wenden. Sie unterstützt dich in einem persönlichen Gespräch, mit dem Hass umzugehen oder dich gegen ihn zu wehren. Indem du gekonnte Gegenrede betreibst, Hasskommentare meldest oder Betroffenen beistehst, unterstützt du einen diskriminierungsarmen digitalen Raum.
Titelbild: Scopio / Andrii Nekrasov